COVID-19
DU HOLDE KUNST – EIN NACHRUF

5. Mai 2020

COVID-19 sei die Stunde der Wahrheit, wird mancherorts behauptet: Die globale Pandemie sprenge den Schein von den Dingen ab und reiße den Menschen die Maske vom Gesicht, sodass deren wahrer Charakter mit einem Mal schonungslos zutage trete.

Diese Einschätzung scheint durchaus nachvollziehbar: Insbesondere dann, wenn man sich beispielsweise die internationale Konzert- und Opernindustrie vor Augen führt, den sogenannten Klassikmarkt also, der mit seiner schönen Musik zumindest noch die letzten Reste des spätbürgerlichen Milieus in Wallung versetzten konnte. Und die dem ansonsten mehr im Verborgenen lebenden Kreis der Finanzaristokratie mit ihren pompösen Klängen immer dann höchst willkommen war, wenn dieser sich bei dessen seltenen öffentlichen Auftritten – nach dem obligatorischen Golf am Nachmittag – am Abend in der Oper entsprechend in Szene zu setzen versuchte: Champagner für die Ohren oder Labsal für eingeschüchterte Herzen – viel mehr war von der klassischen Musik im öffentlichen Leben nicht übriggeblieben.

Doch jetzt lässt COVID-19 diesen scheinbar so illustren Schein, den die Klassikszene wie kaum eine andere Luxusindustrie perfekt zu inszenieren wusste, mit einem Mal wie eine fade schillernde Blase zerplatzen. Wie vor den Kopf geschlagen und von Gott und Welt schnöde verlassen, findet sie sich mit einem Mal mutterseelenallein in ihren verwaisten goldenen Sälen wieder.

Eine Branche wohlgemerkt, die noch gestern nicht müde wurde immer wieder zu behaupten, sich in der Mitte der Gesellschaft verankert zu sehen, schließlich sei Kunst ein Grundrecht, also hätte jeder auch das Anrecht ihre einzigartigen Kunstproduktionen genießen zu dürfen.

Doch abgesehen von der Tatsache, dass die sogenannten Klassiktempel dieser Branche, beileibe nicht nur in Europa, immer noch in den Zentren vieler Städte herumstehen, scheint die Behauptung des Klassikmarkts nichts als hohle Luft gewesen zu sein. Denn offenkundig schert sich keiner in der Gesellschaft auch nur die Bohne darum, dass dieser seine abgestandenen Rituale nicht mehr zelebrieren darf. Kein Hahn kräht danach – der faule Zauber scheint mit einem Mal schlichtweg vergessen. Systemrelevanz sieht anders aus!

WO BLEIBT DIE RETTENDE POLITIK?

Demzufolge sieht sich auch die Politik nicht sonderlich dazu aufgefordert, sich in Zeiten der globalen Pandemie auch noch um den Klassikmarkt Gedanken machen müssen. Und außerdem: was kann die Politik dafür, dass Konzert- und Opernvorstellungen unter die Rubrik „Großveranstaltungen“ fallen, und mit ihren jeweils mehr als tausend Besuchern wegen COVID-19 eben einfach nicht mehr stattfinden dürfen. Denn als wahre Virusschleudern würden diese ja alle Versuche, die Pandemie einzudämmen, im Nu zunichtemachen, und allein aus diesem Grund, und nicht etwa wegen ihres völlig belanglosen Musikgetöne auf einmal mächtig ins Gerede kommen.

So war es mit dem globalen Klassikmarkt schon vor COVID-19 nicht mehr allzu weit her gewesen: Denn über die Jahre hinweg war auch aus diesem ein knallhartes, völlig durchkapitalisiertes Geschäft geworden, in der die Musik nur noch eine Nebenrolle spielte und zur wohltönenden Ware verkommen war.

Produziert von einer vermeintlichen Hochkulturbranche, die vorwiegend von Managern statt von Künstlern geleitet wurde, die sich früher beispielsweise um den Absatz von Joghurt oder Parfüm kümmerten, und jetzt eben für den Verkauf von Klassikmusik verantwortlich waren. Wobei sich der Umsatz dieser Produkte einzig am Ticketing bemaß, also an der Anzahl der verkauften Eintrittskarten, die es einem mächtig in die Jahre gekommenen Publikum ermöglichten, sich Zugang zu den heiligen Hallen dieser Branche zu verschaffen, um deren betörende Klangprodukte mehr oder weniger gebannt konsumieren zu können. „Ausverkauft“ – mehr als das aber war an einem Abend selbst für abgefeimte Manager aus dem ganzen Zinnober nicht herauszuholen.

ÖDE REPRODUKTIONSMASCHINEN

Das aber, was die Besucher in den Klassiktempeln wirklich erwartete, war alles andere als lebendige Kunst. Denn aus den globalen Konzert- und Opernunternehmen, die einst ein erstaunlich vitales und überaus reichhaltiges Programm anzubieten wussten, waren über die Jahre hinweg anödende und reaktionäre Reproduktionsmaschinen des immer Gleichen geworden, die nur mehr ein völlig eingedampftes und verarmtes Repertoire mutmaßlicher Highlights der Musikliteratur hervorbrachten, und – bis auf wenige glückliche Ausnahmen – außer sündhaft teurer und eitler Routine nichts mehr anzubieten wussten.

So setzte sich das Opernrepertoire weltweit nur mehr aus ca. 50 Werken der Musikgeschichte zusammen, die immer wieder aufs Neue wiedergekaut und durchexerziert wurden – gnadenlos durch die Mangel gedreht bis zur Unkenntlichkeit. Folglich waren aus Opernpremieren Inszenierungspremieren der immer gleichen Stücke geworden, in denen die Partitur nur noch dem Vorwand diente, die Opernregie als zeitgenössischen Berufsstand zu legitimieren, was aber beim tausendsten Don Giovanni nur scheitern konnte.

So war das eingeschworene und allmählich sedierte Klassikpublikum der Opernregie schließlich überdrüssig geworden – es gierte sehnsüchtig nach dem vermeintlichen Original: Und dies brachte so manche Klassikmanager auf die perfide Idee, uralte Inszenierungen, die längst in der Versenkung verschwunden waren, kurzerhand zu reanimieren und diese als originelle Meilensteine der Regiekunst auf den Markt zu werfen, um dem Publikum einmal einen richtigen Happen vorzusetzen.

So wurde bei den Salzburger Opernfestspielen im Jahre 2017 die fünfzig Jahre alte Inszenierung der Walküre von Richard Wagner in der Regie von Herbert von Karajan szenisch rekonstruiert, und dies selbstverständlich im Originalbühnenbild von Günther Schneider-Siemssen. Gestanzte Szene bei wohlbekannter Musik – das Publikum flippte aus: ENDLICH MAL WAS NEUES! raunte es hingerissen, statt nur immer wieder dasselbe: Aida im Raumschiff, Don Giovanni in den Suburbs, Tosca im Genlabor oder Die Zauberflöte als Familienaufstellung.

DIE KLASSIKBRANCHE ZERSETZTE DIE MUSIK

Auf diese Weise trocknete auch diese Kunstform allmählich aus: Die großen Opernwerke verloren mehr und mehr an Kontur, ihre Physiognomie verblasste – ihnen wurde förmlich der Atem genommen. Übrig blieben sattsam ausgeweidete Filetstücke der Musikliteratur, die bald völlig ausgeblutet und ausgedorrt im matten Bühnenlicht schimmerten, und ihrer Verwesung harrten. Säuselnde oder wuchtige, immerfort repetierte Klänge, die zur akustischen Staffage einer progredienten szenischen Leichenfledderei gerieten. Internationale Akustik-Ware mit superber Optik, allseits wiederverwendbar und derart zeitgenössisch, wie es die Zeitgenossen wirklich nicht verdient hatten, weil sie ja nichts anderes kannten

Aber auch um das internationale Konzertwesen war es schon vor COVID-19 alles andere als gutbestellt. Denn auch hier litt man an der Krankheit des mumifizierten Repertoires und schöpfte letztlich nur noch aus Altbekanntem und lutschte es schamlos aus: Brahms, Bruckner und Beethoven. Mehr schien dem Management offenbar nicht mehr verkäuflich, der Markt war eng. Und richtig: Das Publikum lechzte nach deren Werken, mehr wollte es offenbar nicht, um sich dem Kunstgenuss hinzugeben – das Gewohnte war schließlich vertraut, und das Fremde sollte eben draußen bleiben. So durchwehte auch hier der Hauch des Reaktionären die Säle – man sehnte sich wenigstens nach akustischer Sicherheit.

Und bis vor wenigen Wochen noch war mit Beethoven, dem Megajubilar der Klassikszene in diesem Jahr, richtig viel Geld zu verdienen: Man musste nur dessen Oeuvre komplett durch die Mangel drehen und zu Kleinholz verarbeiten, um endlich mal wieder richtig absahnen zu können. Doch dazu kam es glücklicherweise nicht, denn COVID-19 setzte dem ganzen Ausverkauf ein vorschnelles Ende.

Doch einer der Darstellerstars der Musikindustrie, der Pianist Igor Levit, will offenbar selbst in Pandemiezeiten nicht klein beigeben und entblödet sich nicht, weiterhin Werbung für seine Einspielung von Beethovens Klaviersonaten zu betreiben und multimedial zu verwerten – ob nun im Radio oder Fernsehen oder im Internet. Das hätte er besser bleiben lassen. Denn dessen Werbekommentare zu diesen Sonaten sind an ignoranter Dreistigkeit und allgemeinem Sentimentalitätsquark nicht zu überbieten. „Du hast das Gefühl, dir fliegen Blitz um die Ohren!“, posaunt er. Oder: „Allein Freiheit, Weitergehen ist in der Kunstwelt wie in der ganzen großen Schöpfung Zweck!“ – „Ohne zu denken, kann man Beethoven nicht spielen“, hat Daniel Barenboim einmal bemerkt. Wie recht er doch hat!

So ist es auch schlichtweg verlogen, wenn die Klassikindustrie lauthals verkündet, Beethoven sei der Urvater der klassischen Konzertform gewesen, die heute wie ein Wunder immer noch existiere, was nicht zuletzt auch ihre große Tradition beweise. Welch Ignoranz: Denn in Wahrheit bestanden Beethovens Konzerte, in denen er als Pianist oder Dirigent fungierte, praktisch nur aus Uraufführungen seiner jeweils neuesten Werke, wohingegen das internationale Konzertgebaren nur noch die Repertoire-Leier drehte, als bestünde die Musikgeschichte lediglich aus etwa 100 Kompositionen. Doch aus der Verarmung des Geistes lässt sich viel Kapital schlagen. Dies bewies nicht zuletzt auch die Klassikbranche zu ihrer Zeit.

DER INTERPRET – NICHTS ALS EIN MARKTVIEH

Dass es bei diesen anödenden und routinierten akustischen Klassikallerlei schließlich nur noch auf die ausführenden Künstler ankam, scheint klar. Denn was da gerade gespielt wurde, war nebensächlich geworden, es kam nur noch auf die sogenannte Interpretation an. „Macht der Dirigent bei Bruckner 7. Symphonie nun im zweiten Satz den ominösen Beckenschlag kurz vor dessen Ende oder nicht?“ Das waren die Fragen, die wenigstens noch den Connaisseur beschäftigten, wohingegen sich andere im Publikum einfach dem Weihrauchgetue hingaben und sich keine Sorgen machen mussten. Oder: „Mein Gott, wie will diese in die Jahre gekommene Sängerin überhaupt noch die Spitzentöne im vierten Satz von Beethovens 9. Symphonie hinkriegen? Da bin ich nun wirklich gespannt!“

Um beim Publikum zumindest noch diese Art von innerer Erregung aufrechtzuerhalten, züchtete sich die internationale Musikszene ein globales Solistenheer heran, das sich aus Dirigenten, Sängern und Instrumentalisten rekrutierte, die sich rund um den Globus gegenseitig die Klinke in die Hand gaben, meist auf Nummer sicher gingen und dementsprechend kurz und knapp probierten, wobei diese aber nicht müde werden durften, sich am hinlänglich ausgenudelten Repertoire engagiert abzuarbeiten – tagein, tagaus. Und dies natürlich in enger Kooperation mit einer schwer in die Jahre gekommenen Phonoindustrie, die ihre Klassik-CDs kaum mehr an den Mann brachte und deshalb ebenfalls nur auf Altbewährtes setzte – Brahms, Bruckner und Beethoven.

Doch auch in diesem Fall kam man natürlich nicht ganz ohne Nachwuchs aus. Folglich setzte man auf jene Jungdirigenten oder Junginstrumentalisten, die irgendeinen internationalen Musikwettbewerb gewonnen hatten, also technisch brillieren konnten. Das aber reichte bei Weitem nicht, mussten diese doch darüber hinaus auch gehörig was von sich hermachen können und besonders gut aussehen, wenn sie überhaupt eine Chance haben wollten - das geistige Niveau ihrer Interpretationen war dabei völlig nebensächlich. Nur wer vor den Kameras der Klassikwerbung mit oder ohne Instrument entsprechend zu posieren wusste, wurde akzeptiert und in den glitzernden Zirkel aufgenommen.

Doch von da an war es mit dem schönen Leben vorbei, denn jetzt mussten diese Youngsters alle Kräfte darauf verwenden, den schönen Schein der Klassikwelt auch entsprechend professionell zu produzieren, da kannte das Musikmanagement keine Gnade. Selbst die Stücke, die sie auf ihren CDs zu musizieren hatten, wurde ihnen diktiert. Mit dem nämlichen Programm ging es dann ab durch die Konzertsäle dieser Welt, um deren CD-Absatz in Schwung zu bringen. Selbstverständlich mit Signierstunden nach dem jeweiligen Auftritt und jeder Menge Pressetermine und Interviews, das war obligatorisch. „Mein Gott, Sie sind ja noch so jung und spielen schon so fantastisch virtuos. Wie schaffen Sie das eigentlich?“

Doch in den völlig durchökonomisierten Gefilden der Klassikwelt herrschten natürlich auch unerbittliche Konkurrenz und rigoroses Ellenbogengeschiebe wie überall – der Run auf die Spitzenplätze war einfach zu groß. Schließlich wollte jeder der Jungstars eines Tages auch mal zig Millionen verdienen.

Aber auch die wenigen, die es endlich geschafft hatten, konnten sich als Superstars und brandaktuelle Klassikikonen nicht so recht sicher sein, wie lange sie das hochakrobatische Bühnengeschäft denn wirklich durchhalten würden, immer mit der Frage im Kopf, ob sie darüberhinaus auf das Vertrauen des Managements auch wirklich bauen könnten.

Dass sich aber selbst solche Spitzenkräfte eines Tages einmal als Marktvieh vorkommen müssten, wurde ihnen vor wenigen Tagen ausgerechnet bei den Salzburger Festspielen, dem wohl bedeutendsten Klassikfestival der Welt, überraschend deutlich vor Augen geführt: Denn auf die Frage, warum das Festival denn angesichts von COVID-19 so lange zögere, die diesjährige Saison von Mitte Juli bis Ende August endlich abzusagen, nahm sich dessen Präsidentin Helga Rabl Stadler – gewollt oder ungewollt – die Maske vom Gesicht und erklärte der Presse unumwunden den wahren Hintergrund ihres vermeintlichen Zögerns. „Die Festspiele müssten am 30. Mai als Stichtag für eine Absage festhallten. Denn erst dann, wenn die österreichische Regierung Mitte Mai Festivals dieser Größenordnung per offiziellen Dekret weiter verbieten würde, könnten die Festspiele auch für die Auflösung der meisten bestehenden Verträge nicht mehr haftbar gemacht werden. Dann wären die mitwirkenden Künstler und Mitarbeiter von einem auf den anderen Tag eben einfach vor die Tür gesetzt, könnte man fortfahren. Welch Offenbarungseid!

Beinahe glaubt man ein Lächeln über das Antlitz von Dionysos hinweghuschen zu sehen. Denn vermutlich atmet der Theatergott erleichtert auf, das ganze leertönende und Geld schachernde Treiben nicht mehr mitansehen zu müssen, das mit dem von ihm ursprünglich erfundenen Theater nun wahrlich nicht mehr das Geringste zu tun hatte.