GESELLSCHAFT / 13
DEMOKRATIE

TEIL 1: DER BÜRGER
10. Januar 2019

Mit Sicherheit ist die Demokratie die gewagteste Gesellschaftsform, die sich die Menschen im Verlauf ihrer Geschichte ausgedacht und dann auch verwirklicht haben. Wobei es nun wahrlich nur einige wenige Denker waren, die sich nach der lange vergessenen attischen Demokratie im 5. Jahrhundert v. Chr. im 18. Jahrhundert wieder an die Idee der Herrschaft des Volkes heranwagten. So Montesquieu (Vom Geist der Gesetze, 1748) und wenig später vor allem Jean Jacques Rousseau, der dem damals herrschenden Absolutismus die Stirn bot und sich zivilcouragiert für die Idee einer freiheitlich verfassten Gesellschaft einsetzte, obwohl seine Werke Vom Gesellschaftsvertrag und Émile oder Über die Erziehung, beide 1762, nach ihrem Erscheinen kurzerhand vom Ancien Regime verboten wurden und Rousseau fliehen musste, um Kerker und Tod zu entgehen.

Rousseau stirbt 1778 in Ermenonville bei Paris, wo er auch begraben wird. Dann aber wird sein Leichnam am 11. Oktober 1794 aufgrund eines Dekrets des französischen Revolutionsdirektoriums nach Paris überführt und dort neben Voltaire im Pantheon beigesetzt. Derjenige, der zunächst als Häretiker gilt, wird später heilig gesprochen – ein altbekannter Mechanismus der Macht, den auch so manche große wissenschaftliche Entdeckung kennt.

Von profunder Liebe zum Menschen getrieben, schreckt Rousseau aber auch ebenso wenig davor zurück, die mit der Freiheit verbundenen Risiken für Mensch und Gesellschaft schonungslos offenzulegen: So sei diese – unter der Voraussetzung einer demokratischen Gesellschaft – zwar eine grandiose Idee, die dem Menschen endlich Gleichheit vor dem Gesetz verspreche, stelle ihn damit aber auch vor enorme Herausforderungen, da er sich von nun an jederzeit tolerant und solidarisch verhalten müsse, um die Freiheit aufrecht zu erhalten, wolle er sie eines Tages nicht wieder verlieren.

„Auf seine Freiheit verzichten heißt auf seine Eigenschaft als Mensch, auf seine Menschenrechte, sogar auf seine Pflichten verzichten“ erklärt Rousseau in seiner Schrift Vom Gesellschaftsvertrag. „Wer auf alles verzichtet, für den ist keine Entschädigung möglich. Ein solcher Verzicht ist unvereinbar mit der Natur des Menschen; seinem Willen jegliche Freiheit nehmen, heißt seinen Handlungen jegliche Sittlichkeit nehmen. Endlich ist es ein nichtiger und widersprüchlicher Vertrag, einerseits unumschränkte Macht und andererseits unbegrenzten Gehorsam zu vereinbaren." (1)

Was es aber letztlich heißt, wirklich frei zu sein, belässt Rousseau im Vagen, beleuchtet er im Wesentlichen doch die sozialen Aspekte der Freiheit und deren gesellschaftliche Dimension, geht aber der Frage nach der Kompetenz des je Einzelnen, den Prinzipien der Freiheit gemäß auch wirklich leben zu können, nur sporadisch nach, und wenn, dann aphoristisch. Rousseaus Überzeugung nach muss der Mensch zur Freiheit erzogen werden. Ob er dazu aber überhaupt fähig ist, lässt er letztlich offen: Die Freiheit sei eine „Eigenschaft“ des Menschen und gehöre gleichsam zu seiner Natur“, beschwichtigt er die Skeptiker und erstickt die Debatte im Keim.

Die Grundsätze seiner Erziehungslehre legt Rousseau in seiner Schrift Émile oder Über die Erziehung dar. Darin betont er immer wieder, wie wichtig es für den Menschen sei, von früh auf Freiheit auf natürliche Art und Weise erfahren zu haben, um sich später dann ihr entsprechend auch verhalten zu können. Andererseits aber insistiert er auch darauf, dass es ebenso wichtig sei, dem Menschen beizeiten gelehrt zu haben, dass er sich gleichsam selbst gehorche, wenn er sich den freiheitlichen Gesetzen entsprechend verhält. „Nur in einer einzigen Wissenschaft muss man die Kinder unterweisen, in der Wissenschaft von den Pflichten des Menschen“, so Rousseau. (2) Die Quadratur des Kreises, so scheint es. Denn die Verpflichtung zu freiheitlichen Gefühlen ist ein Widerspruch in sich selbst. Nicht zufällig sind Freiheitsgefühle und Liebesempfindungen eng verwandt – die ungeahnte Leichtigkeit des Seins.

Vielleicht aber ist nur der wirklich frei, der sich selbst gegenüber frei ist. Die natürliche Distanz zum Ich schafft Neugier, Offenheit und Raum, der den Anderen miteinbegreift. Die Achtung vor ihm setzt die vor sich selbst voraus. Solidarität stiftet sich nicht qua Verordnung.

Wäre die Freiheit tatsächlich eine genuine Eigenschaft des Menschen, wie Rousseau behauptet, sollte es ihm bislang in seiner Geschichte auch nicht allzu schwergefallen sein, sich für diese einzusetzen und notfalls sogar um sie zu kämpfen. Doch dessen Geschichte vermittelt ein ganz anderes Bild: liest sie sich doch wie eine nicht enden wollende Abfolge von Epochen gesellschaftlicher Unfreiheit und Unterdrückung, die erst in jüngster Zeit von freiheitlichen Gesellschaftsformen durchbrochen wird: Offenbar ist der Mensch nur wenig erfolgreich darin, seine Freiheit zu erlangen und sich dementsprechend auch zu organisieren.

Sicher, die Geschichte kennt auch den Aufstand, die Revolution. Doch wohin führten diese Befreiungsversuche in aller Regel? Einen Schritt weiter links oder rechts, aber keinen Schritt vorwärts, kommentiert Wilhelm Reich diese Ereignisse in seiner Rede an den kleinen Mann. Offenbar neigt der Mensch auch gesellschaftlich gesehen eher zur Passivität und nimmt die Freiheit – ganz entgegen Rousseaus Annahme – lieber als Geschenk entgegen das sich herausragende und mutige Denker für ihn ausgedacht haben statt selbst für diese einzutreten. An Geschenke aber gewöhnt man sich rasch. Visionen hingegen, die im Herzen brennen wirken ein Leben lang.

Bezeichnenderweise erwächst der Freiheitsimpuls in aller Regel erst in Gegenwart von Unfreiheit, wohingegen ein Leben in Freiheit dazu neigt, rasch zur Normalität zu werden, der nichts Besonderes mehr anhafte – der Mensch ist ein Gewohnheitstier: Sich frei zu fühlen, heißt aber noch lange nicht, gesellschaftlich auch wirklich frei zu sein!

Unter diesem menschlichen Handicap leidet vor allem die alles auf die Karte der Freiheit setzende Demokratie.Experten warnen bereits vor deren Niedergang und denken schon öffentlich darüber nach, ob diese Gesellschaftsform unter den gegenwärtigen Bedingungen überhaupt noch funktionieren kann. Und dies wohlgemerkt vor dem Hintergrund der Tatsache, dass jeder Bürger einer Demokratie so sein kann, wie er will, ohne dass seine politische, religiöse oder sexuelle Orientierung dabei irgendeine Rolle spielt. Historisch gesehen wohl einmalige existentielle Bedingungen, die die westlichen Demokratien ihren Bürgern zu verschaffen wußten – wenigstens über die letzten 50 Jahre hinweg.

Und dennoch, selbst angesichts dieser exorbitanten Freiräume scheint die Fähigkeit vieler, von ihrer Freiheit auch wirklich Gebrauch zu machen und diese auch für sich und die Gesellschaft zu nutzen, zusehends zu schwinden. Trotz des Wohlstands, in dem die meisten leben, wirken viele angespannt und verhetzt und fahren rasch aus der Haut, wenn ihnen etwas nicht in den Kram passt. Lebensfreude sieht anders aus – ein Schleier der Verdrossenheit durchweht das Geschehen.

Warum dem so ist – darüber streiten die Geister. Und dennoch liegt in dieser Frage der Schlüssel zum Verständnis, warum sich die westlichen Demokratien gegenwärtig so tiefgreifend in der Krise befinden. Das Verhalten der Bürger wird immer unberechenbarer. Ihre sie beutelnde Unzufriedenheit neigt mehr und mehr zur Aggression – die Tätlichkeiten nehmen zu. Folglich ist es von grundlegender Bedeutung, die Wurzeln dieser Verhaltensänderungen ausfindig zu machen, die angesichts der verwirrenden Komplexität und Abgründigkeit des gegenwärtigen Geschehens in letzter Konsequenz offensichtlich nicht adäquat wahrgenommen werden.

Denn wieder einmal stellt die kapitalistische Ökonomie mitsamt ihrer ausgefuchsten Technologie, die sie speziell auf ihre Machtinteressen hin zu entwickeln und auszurichten weiß, die Gesellschaft völlig auf den Kopf. Und dies (vermutlich) auf wesentlich radikalere Art und Weise als bislang in ihrer 250-jährigen Geschichte:

Der loyale und zivilcouragierte Bürger scheint von der Bildfläche zu verschwinden. Und die gesellschaftlichen Klassen und Strukturen, durch die er sich bislang definierte, sind in Auflösung begriffen: Aus der Oberschicht ist eine Gruppierung einiger weniger, die Welt beherrschenden Megakapitalisten geworden, die vom Menschen nicht viel mehr halten und sich deshalb vorsichtshalber von der Gesellschaft zurückziehen und sich in Gated Communitys für CEOs verschanzen.

Dagegen steht eine riesige Masse von Minderbemittelten und Armen, welche als Unterschicht am Rand ihrer Existenz ihr Leben fristen sich aber erstaunlicherweise nicht auflehnen und auf die Barrikaden gehen. Und dennoch wird in der Öffentlichkeit viel über sie debattiert, da sie bei den Profiteuren des Wohlstands ein schlechtes Gewissen und Angst erzeugen.

In der vielbeschworenen Mittelschicht aber, auf die sich die Demokratien noch zu stützen glauben, brodelt es gewaltig. Denn unter dem aberwitzigen Druck der sich zusehends beschleunigenden Ökonomisierungsprozesse werden deren einst so stabilen Lebensbedingungen mächtig auf die Probe gestellt. Dabei aber ergibt sich ein fatales Problem, neigt der Mittelständler in aller Regel doch zu massiver Existenzangst, die ihn angesichts solch plötzlicher Unsicherheit, mit der er sich konfrontiert sieht, mächtig ins Schlingern bringt. In seiner Angst sieht er sich schon am Abgrund stehen – der Wutbürger betritt er die Szene. Der verlorene Sohn einer Gesellschaft, die ohnehin zerbröselt.

Der Wutbürger verachtet die Gesellschaft und  will eine andere. Eine aus mystischer Vorzeit, die es nur in seinem Kopf gibt. Ein Regime aus Zucht und Ordnung und nur seiner Rasse. An dem Schlamassel, in dem er steckt, ist natürlich der Staat schuld. Aber selbst dann, wenn der Staat ihm Geld zusteckt, damit er sich beruhigt, reagiert er nicht – sein Unmut scheint tieferer Natur.

Der vielzitierte Riss, der durch die demokratischen Gesellschaften geht, ist in Wahrheit rein ökonomischer Natur, und hat mit der Gesinnung oder gar politischen Haltung der Menschen nicht das Geringste zu tun. Bedeutet dieser letztlich doch nichts anderes als die hochbrisante Tatsache, dass die mittlerweile immer rigider operierende Ökonomie die Bevölkerung der Demokratien in zwei, rein existentiell bedingte Teile zerfallen lässt, die mit dem früheren sozialen Klassengefüge nicht viel mehr gemein haben und im Grunde auf einer erschreckend banalen Regel beruhen: Entweder man hält mit und profitiert vom System, oder man fliegst raus oder bleibt ewig draußen! Nicht zwei wohldefinierte gesellschaftliche Klassen stehen sich da antagonistisch gegenüber, sondern zwei völlig amorphe Menschenmassen, die in diejenigen, die HABEN, und die, die NICHT-HABEN auseinanderfallen – die völlig aus dem Ruder laufende Wettbewerbsökonomie kennt keine Gnade mehr. Die Schonfrist, die der Kapitalismus den Demokratien einstmals einräumte, scheint abgelaufen.

In diesem Zusammenhang überhaupt noch von einer unteren Mittelschicht zu reden, die sich aus Geldmangel keinen Urlaub mehr leisten und ihren Kindern keine neue Kleidung mehr kaufen kann, mit einer Mahlzeit pro Tag auskommen muss und im Winter nurmehr selten die Heizung anschaltet, um Geld zu sparen, ist abgestandener Sozialkitsch, gehören diese Menschen doch mittlerweile auch schon zu jener Masse, die durchs Raster gefallen und auf staatliche Almosen angewiesen ist.

Die Gelbwesten in Frankreich sind für diesen Sachverhalt ein extrem gutes Beispiel, handelt es sich bei dieser Bewegung doch beileibe nicht um einen zielgerichteten Aufstand, der ein gemeinsames politisch-soziales Ziel zum Inhalt hat, sondern vielmehr um das Aufschäumen einer diffusen Masse, die – einer Notgemeinschaft gleich – letztlich nur noch eines verbindet – eine abgründige und selbst für sie nur schwer zu fassende Verdrossenheit an einem von der Ökonomie sinnentleerten und eintönigen Leben, wobei das Geld für sie bezeichnenderweise nur eine zweitrangige Rolle spielt.

Eine geplante Öko-Benzinsteuer war die Lunte, die diese brisante Grundstimmung massenhaft zum Explodieren brachte und die Gelbwesten in ihrer blinden Wut auch nicht davor zurückschrecken ließ, Ikonen der französischen Republik wie die Marianne willkürlich zu beschädigen, um dieser symbolisch an die Gurgel zu gehen – gesellschaftlichen Sinnbilder, die für sie offenbar jegliche Bedeutung verloren zu haben scheinen und nur mehr als bloße Nippesfiguren in den öffentlichen Hallen des Staates vor sich hindämmern. „Wir leiden doch alle an denselben Dingen!“, orakelt einer der Gelbwesten und scheint dennoch nicht so recht zu wissen, wovon er eigentlich spricht. „Die Gelbwesten brauchen einen Führer!“, ruft Slavoj Zizek sichtlich irritiert aus London herüber. Da scheint er nicht weit von Sahra Wagenknecht entfernt, die einsam vor dem Bundeskanzleramt in Berlin als Gelbweste verkleidet für eine deutsche Variante des französischen Aufstands wirbt.

Für die Wut der Bürger wird zumeist der Neoliberalismus verantwortlich gemacht. Diese staatlich verordneten Maßnahmen hätten der kapitalistischen Ökonomie alle Fesseln genommen, behaupten die Vertreter dieser These: Mit deren Deregulierung sei der Sozialstaat par ordre du mufti durch einen völlig enthemmten Wettbewerbsstaat ersetzt worden, der die demokratischen Gesellschaften gleichsam von heute auf morgen den menschenverachtenden Machenschaften des Kapitalismus zum Fraß vorgeworfen hätten.

Doch dieses Erklärungsmodell greift zu kurz. Denn mit der Deregulierung der kapitalistischen Ökonomie wurden die westlichen Demokratien nicht etwa schlagartig einem neuen, Mensch und Gesellschaft verachtenden Wirtschaftssystem ausgesetzt, dessen rigide Methoden urplötzlich in jede Ritze der gesellschaftlichen Wirklichkeit eingedrungen wären, sondern lediglich mit der Verschärfung dieser Methoden und Gesetzmäßigkeiten konfrontiert, die ohnehin schon über Jahrhunderte in diesen Gesellschaften wirksam gewesen waren und diese in die Zange genommen hatten. Im wie immer verspäteten Deutschland nannte sich dieses Phänomen nach 1945 tatsächlich noch Wirtschaftswunder, was im Grunde aber nichts anderes bedeutete, als die vermeintlich rettende Flucht nach vorn angetreten zu haben – den Holocaust im Nacken.

Mittlerweile aber ist die offenbar alles nivellierende kapitalistische Ideologie auch in Herz und Hirn des Bürgers eingedrungen. Die einzig in ihm noch wirksame Maxime seines Gesellschaftsverständnisses lautet MithaltenSich Anpassen und Konsumieren – andere Beweggründe seiner sozialen Existenz scheinen ihn nicht mehr zu beflügeln. Wobei sich bei genauerer Betrachtung allein im Konsumieren die letzten Reste seines Gemeinschaftsgefühls wiederfinden lassen, denn beim Mithalten und Sich Anpassen ist nur der Einzelne gefragt, und der muss sehen, wo er bleibt. Dieserart haben sich die westlichen Demokratien zu puren Konsumgesellschaften entwickelt, in denen der Sinn nach sozialer Verantwortung und solidarischem Zusammenhalt mehr und mehr verkümmert.

Der selbstbewusste und couragierte Bürger hat die Szene verlassen. An seine Stelle ist der besinnungslose Konsument getreten, der das Bild der Gesellschaft dominiert und bei all’ den glitzernden Offerten, die ihn umschwirren, schon nicht mehr weiß, wo ihm der Kopf steht. Seine Freiheitsgefühle sind ins Reich der Dinge und technischen Produkte abgewandert – alles scheint ihm jetzt käuflich: Glück, Liebe und bald vielleicht sogar auch ein ewiges Leben, das er sich erträumt, um seine abgründige Angst vor dem Tod zu betäuben – Sillikon Valley lässt ihn hoffen.

Die aberwitzige Anziehungskraft, die die kapitalistische Ideologie auf den Menschen ausübt, und der er sich offenkundig nur schwer zu entziehen vermag, zeigt sich mittlerweile auch an den kognitiven Modulationen, die sie in seinem Wesen bewirkt, und zu drastischen Wahrnehmungsverschiebungen und Verhaltensauffälligkeiten führen, die in ihrer weitreichenden Konsequenz für Individuum und Gesellschaft bislang nicht adäquat eingeschätzt und verstanden werden.

Das erstaunt. Denn schon Marx hatte auf die psycho-sozialen Folgen der kapitalistischen Ideologie hingewiesen, die zu qualitativen Veränderungen in Denken, Fühlen und Verhalten des vergesellschafteten Individuums führen würden. Diese kognitiven Phänomene suchte er im Begriff der Charaktermaske zusammenzufassen. Unter den ökonomischen Bedingungen des Kapitalismus existierten die Personen „füreinander nur als Repräsentanten von Ware und daher als Warenbesitzer“, schreibt Marx. „Diese ökonomischen Charaktermasken der Personen“ seien „nur die Personifikationen der ökonomischen Verhältnisse, als deren Träger sie sich gegenübertreten. (3)

Während Marx die kapitalistischen Verkehrsformen jedoch noch mit dem Rollenspiel der italienischen Typenkomödie des 18. Jahrhunderts verglich, in der die Protagonisten Charaktermasken tragen, um die von ihnen dargestellten Personen wie den Pantalone oder Dottore zum Beispiel typmäßig von vornherein festzulegen und dieses, von der konkreten Person abstrahierende Darstellungsprinzip in den Rollen von Käufer oder Verkäufer als „Personifikationen der ökonomischen Verhältnisse“ wiederzuerkennen glaubte, hat sich diese Camouflage in unseren Tagen nachgerade ins Gegenteil verkehrt. Denn heutzutage trägt keiner mehr Maske, wenn er – von seinen schier unstillbaren Wünschen und Begierden getrieben – auf den Markt drängt, sondern zeigt demonstrativ sein eigenes, höchstindividuelles Gesicht, das er schamlos mit Leib und Seele veröffentlicht, als wolle er sich selbst verkaufen.

Das Private ist öffentlich geworden und das Öffentliche privat, denn das Zeitalter der Selbstverwirklichung ist angebrochen – alle scheinen auf der Suche nach ihrem Ich. Und der Markt schäumt über von Selbstverwirklichungsprodukten, die den Verzweifelnden helfen sollen, sich zu finden, da will sich keiner mehr verstecken. So ist mittlerweile auch das Seelenleben zur Ware geworden mit dem sich die Ökonomie eine goldene Nase verdient.

Die vulgäre Selbstentblößung aber, die die fatale Konsequenz aus diesem im Ansatz schon vergeblichen Wahnwitz ist will keiner bemerken. Und den Katzenjammer anderer, nie das richtige Produkt zu finden, erst recht nicht. Wie besinnungslos treibt es den Ichsüchtigen hinter sich her – aber nur die Katze beißt sich in den Schwanz. „Wir sind in der ungefähr zehntausendjährigen Geschichte das erste Zeitalter, in dem sich der Mensch völlig und restlos problematisch geworden ist: in dem er nicht mehr weiß, was er ist, zugleich aber auch weiß, dass er es nicht weiß.“ (4)

Die Identitätskrise, die den Menschen der Gegenwart beutelt, kommt nicht von ungefähr: „Es gibt eine Eigendynamik der wirtschaftlichen, der technologischen und sozio-kulturellen Entwicklung“, merkt Andreas Reckwitz in diesem Zusammenhang in der ZEIT an, und weist auf die „massive Vermarktlichung von unten“ hin, die sich schon seit den 70er Jahren gezeigt habe: „Es hat seither eine tief greifende Umschichtung unserer Lebenswerte stattgefunden: weg von der Pflicht, der Anpassung und sozialen Akzeptanz hin zur Selbstentfaltung. Anders als noch seine Elterngeneration strebt das spätmoderne Individuum nach der Verwirklichung ‚seiner’ inneren Wünsche. Es nimmt die soziale Welt immer weniger als eine vorgegebene an, sondern als einen Gegenstand von Optionen: Man will aus den Möglichkeiten wählen, was zu einem passt. Der Wert der Selbstverwirklichung setzt sich damit in eine Haltung des allseitigen Konsums um – man betrachtet das, was die Welt bietet, als Markt.“ (5)

Reckwitz’ Anmerkungen zu den Geschehnissen beschreiben den eklatanten Kognitionswandel, der das spätmoderne Individuum erfasst hat, auf anschauliche Art und Weise. Warum sich dieser aber überhaupt ereignete, davon berichtet Reckwitz nicht, weil er offenbar den psychodynamischen Prozess, die diesen Geschehnissen zugrunde liegt und sich wie ein roter Faden durch die Geschichte zieht, nicht bemerkt.

Was also bedeutet es letztlich, wenn im mentalen Erleben des je Einzelnen der Wert der Selbstverwirklichung zur konsumtiven Haltung geworden ist? Das ist die entscheidende Frage. Schließlich sind nicht wenige dieser Selbstentfaltungsadepten in ihrem Inneren der felsenfesten Überzeugung, sich so etwas wie eine Seele kaufen zu können oder zumindest eines ihrer Bestandteile – ihre Realitätsempfindung hat sich verschoben: Offenbar das Resultat kognitiver Prozesse, die den Menschen den sinnlichen Eindruck vermitteln, das was sie erleben, als völlig real zu empfinden.

Es ist, als hätte sich das Gehirn auf die verdinglichte Welt, die die Konsumindustrie den Menschen rund um die Uhr präsentiert, hin eingepegelt: der schöne Schein ist zur Realität der Menschen geworden, die alte hat abgedankt: „Die Vermarktlichung ist ... in die feinsten Kapillaren der spätmodernen Lebenswelten eingedrungen und entfaltet dort in einer Weise eine verführerische emotionale Anziehungskraft und zugleich einen Zwang, wie keine Regierung sie hätte planen können.“ (6) So beschreibt Reckwitz diese Vorgänge auf bildhafte Art und Weise, ohne diesen aber wirklich auf den Grund zu gehen.

Die Verdinglichung der Welt, die die kapitalistische Ideologie bewirkt, ist in den Köpfen der Menschen angekommen – sie glauben ihren durchökonomisierten Alltagsverhältnissen entkommen zu sein und leben in einer anderen Welt, die ihnen als eine Ansammlung von ultimativen Produkten erscheint und voller Optionen.

Diese Sicht auf die Dinge aber wirft den Menschen auf sich selbst zurück – er verliert sein Gegenüber. Und die Empfindungen, die die entzauberte Welt in ihm auslösen, materialisieren sich gleichsam. Von dort aber ist es nurmehr ein kleiner Schritt, sich selbst als eine Art Ding oder Maschine zu begreifen, für die es physische und natürlich auch physische Ersatzteile gibt.

Wer glaubt, diesen hirnphysiologisch begründeten Kognitionsprozessen eine psychiatrische Diagnose anhängen zu können, macht es sich wahrlich zu leicht. Die Welt besteht nicht nur aus Verrückten. „Die Verrückten hast du eingesperrt und der Normalmensch verwaltet diese Welt. Wer also ist an allem Übel schuld?“, sagt Wilhelm Reich in seiner Rede an den kleinen Mann: Denn noch immer bestimmt das Sein das Bewusstsein, aber auch das kann sich noch ändern, wenn man einen Chip im Kopf stecken hat!

Die konsumistisch bedingte Realitätsverschiebung in Wahrnehmung, Denken und Empfindung der Menschen ist die eigentliche Bombe, die in den westlichen Demokratien tickt. Sie bedeutet wahrlich keine „Konsumentenrevolution“ wie Reckwitz meint, sondern letztlich die Tatsache, dass ein Großteil der Bevölkerung die Welt nur mehr konsumistisch betrachtet – durch die Brille der kapitalistischen Ideologie. So sieht dieser in der Demokratie nurmehr irgendein Machtinstrument, das Sicherheit und Ordnung aufrecht erhalten soll. Der Sinn für die Demokratie schwindet, der Freiheitsgedanke kommt ihr abhanden.

Diesem Phänomen gegenüber sind die sich aus religiösen oder kulturellen Gründen hier und da in der Bevölkerung herausbildenden Parallelgesellschaften geradezu banal. Denn eine Gesellschaft, die sich massenhaft in die Parallelwelt einer hochtechnisierten Konsumindustrie verkrümelt, ist wahrlich keine demokratische mehr. Diktatur und Kapitalismus gehen zusammen. Kapitalismus und Demokratie hingegen nicht.

Das wesentliche Agens der kognitiven Umwälzungsprozesse liegt also weniger in der „Vermarktlichung des Alltagslebens“ begründet, wie Reckwitz meint, sondern vielmehr in der „Verinnerlichung der Vermarktlichung“. Hatte die kapitalistische Ökonomie zunächst noch nach der bloßen Arbeitskraft des Menschen gegriffen und damit dessen Person negiert, was ihm zwar Lohn, aber gleichzeitig auch seelische Schwächung einbrachte, treibt sie ihm gegenwärtig offenbar noch den letzten Lebenswert aus Kopf und Herz. Und wenn er wie besessen nach "Selbstverwirklichung" giert, so doch nur reflexhaft und aus rein instinkten Gründen da er sich innerlich ausgehölt und erschöpft fühlt, weil er sich mehr und mehr abhanden kommt – ein Teufelskreis.

Der Zynismus des Kapitalismus ist unschlagbar, er verdient noch an den Malaisen, die er dem konsumsüchtigen Menschen zufügt. Ihn stört es wenig, wenn das Ganze zur völlig enthemmten Nabelschau verkommt solange die künstlichen Ideale seiner durchkommerzialisierten Ikonen ihre Wirkung nicht verfehlen.

Das menschliche Sensorium hat sich in den Fallstricken der kapitalistischen Ideologie verhakt: Spieglein, Spieglein an der Wand ... Schon im Märchen macht der permanente Blick in den Spiegel böse und krank. Denn nur derjenige, der sich leer und unglücklich fühlt, drängt es wieder und wieder vor den Spiegel. Er starrt sich an und fleht um Antwort. Die aber kriegt er nicht. Was soll er sich auch sagen?

Doch die Konsumindustrie weiß ihn zu trösten: BE NOTHING BUT ABSOLUT, flüstert ihm die Wodkawerbung ins Ohr.

 

(1)  Jean-Jacques Rousseau: Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts. Reclam, Stuttgart 2010. Kap. 4, Sklaverei.
↗ (2) Jean-Jacques Rousseau: Émile oder Über die Erziehung. Erster Band
(3)  Marx-Engels-Werke. Bd. 23, Dietz-Verlag, Berlin. S. 99
(4)  Max Scheler: Die Stellung des Menschen im Kosmos. 16. Auflage. Bouvier, Bonn 2007
↗ (5) Andreas Reckwitz: Der Markt unserer Wünsche. DIE ZEIT. 29.11.2018
↗ (6) Andreas Reckwitz, ebenda