GESELLSCHAFT / 15
DEMOKRATIE

TEIL 3: DIE MASSE
8. April 2019

Auch in den westlichen Demokratien hat sich das Kommunikationsverhalten der Menschen in den letzten Jahren drastisch verändert und sich weitestgehend ins Internet verlagert: Im Handumdrehen sind aus Bürgern User geworden, die ohne Smartphone nicht mehr auszukommen scheinen – immer erreichbar, können sie so jeden, der ihnen gerade in den Sinn kommt, von überall aus kontaktieren und sich zudem auch jederzeit frei im Internet bewegen: So hat der User heutzutage seinen Cyberspace immer dabei, ganz egal, wo er sich gerade befindet. Es sei denn, er wird böse überrascht, weil er unversehens in ein Funkloch geraten ist und urplötzlich mit der Realität konfrontiert wird.

Die Realitätsferne, in die der User demzufolge gerät, kommt vor allem dann besonders eklatant zum Vorschein, wenn dieser mit seinem obligatorischen Handy oder iPad im öffentlichen Raum in Erscheinung tritt – ob nun in Cafés oder Bars, in Restaurants oder Kneipen, auf Plätzen oder in Parkanlagen, in Bussen, U-Bahnen, Passagierflugzeugen oder gar in freier Natur, wo er andere achtlos auflaufen lässt, semiautistisch behindert oder ihnen rigide den Bewegungsspielraum nimmt. Und dies als zähflüssige, gleichsam erstarrte Masse, die dem Leben den Atem nimmt und den Eindruck erweckt, die Welt würde ausgebremst und von dieser zum Erliegen gebracht.

Unwillkürlich kommt einem dabei der Film Der Tag an dem die Erde stillstand von Scott Derrickson aus dem Jahre 2008 in den Sinn. In diesem wollen außerirdische Zivilisationen die Erde vor den Menschen retten, weil sie diese für unfähig erachten, ihren Heimatplaneten vor dem Ruin zu bewahren. Um diesen so einzigartigen Planeten, der komplexes Leben ermögliche, dem Universum zu erhalten, kommen sie auf die Erde und zwingen die Menschen in die Knie, in dem sie die Welt durch einen elektromagnetischen Puls, der alle elektrischen Geräte außer Funktion setzt, vorübergehend zum Stillstand bringen. Mit dieser Lektion aber wollen sie den Menschen auch eine „zweite Chance“ geben, künftig im Einklang mit der Erde zu leben und diese nicht weiterhin auszubeuten.

Den User aber lassen solche Szenarien kalt. Ob er nun will oder nicht, er steckt im Cyberspace fest und ist süchtig nach ihm. Völlig abwesend und stocksteif okkupiert er stehend oder hockend zu Abermillionen den öffentlichen Raum und scheint von dem, was um ihn herum vor sich geht, nichts mehr mitzubekommen. Erstarrt zu einer Art Ikone der Realitätsflucht, mit leicht gesenktem Kopf und etwas nach vorn gebeugtem Oberkörper schier endlos aufs Display seines Handys oder iPads starrend – panzerhaft abgeschottet von der Welt in imaginären Sphären unterwegs.

Es sind die Massen der User, die den westlichen Zivilgesellschaften zusehends auf den Pelz rücken und deren einst so buntes und vitales Leben allmählich in die Knie zwingen und veröden lassen. Ignorante, kontur- und gesichtslose Massen, die zu Abermillionen Städte und Landschaften unter sich begraben und so viel vom wahren mentalen Zustand dieser Gesellschaften verraten, die aus immer mehr geistig verarmten Menschen zu bestehen scheinen.

Der Realitätskonflikt, an dem diese leiden, ist dissoziativer Natur, den jeder Autofahrer wenigstens ansatzweise kennt: So wenn er beispielsweise wie automatisch auf der Autobahn dahinfährt, mit seinen Gedanken aber in ganz anderen Regionen unterwegs ist – praktisch ohne Bewusstsein für die konkrete Situation, in der er sich da gerade befindet.

Beim User aber chronifiziert diese Spaltung im Erlebensprozess. Mit dem Handy vor Augen scheint er vergessen zu haben, wo er sich eigentlich befindet, während er wie hypnotisiert durchs Internet dahin gondelt das ihm zur wahren Realität seiner entfremdeten Existenz geworden ist. Zusammengehörige Denk-, Handlungs- oder Verhaltensabläufe zerfallen ihm so in weitgehend unkontrollierte und voneinander unabhängige Wirklichkeitsbereiche, ohne dies noch recht mitzubekommen.

Abgekapselt vom realen Leben um sich herum kommuniziert er gleichsam nur noch imaginär und ist mit virtuellen Freunden und Followern, die er meist gar nicht kennt, nachgerade pausenlos im Cyberspace auf Achse – anonymisiert hier wie dort. Kein Wunder, dass sein so beständig geschwächtes Ichgefühl irgendwann ins Strudeln gerät und – praktisch notgedrungen – schließlich dem Selbstoptimierungswahn zum Opfer fällt, der ihn, ratlos und verzweifelt wie er nun einmal ist, dazu zwingt im Netz unentwegt nach Kontakt und Lebenssinn zu suchen, der ihm so aber für immer verschlossen bleiben muss.

Seinem Mitteilungsbedürfnis aber sind von den Kommunikationstechnologien der Sozialen Netzwerke enge Grenzen gesetzt, denn für komplexe Gedankengänge oder große Gefühlsbekundungen fehlt der Raum. „Wer eine Geschichte erzählen will, sollte ein Memo machen“, rät die Kommunikationsexpertin Emitis Pohl. Das sei zehnmal besser, als die Geschichte komplett zu tippen, wozu ohnehin keiner mehr die Zeit hätte. Außerdem würden dann ja auch die Finger irgendwann taub. Das aber muss dem User nicht groß erklärt werden, er greift ohnehin lieber zu gestanzten Floskeln, wenn er sich mitteilen will – das ist praktisch und geht schnell. Und die Zumutung, seine Nachrichten auf die mechanischen Raster der Messenger-Dienste eingeschränkt zu sehen, stört ihn nicht im Geringsten.

Im Gegenteil. WhatsApp-Infos, Instagram-Bilder oder YouTube-Clips bringen ihn erst richtig in Fahrt, und an Emojis kann er sich platterdings einfach nicht satttexten. Emojis seien ein Segen für die Menschheit, meint Sascha Lobo. Dank ihrer spräche der User endlich wieder über seine Gefühle. Wer so etwas jedoch ablehne, verschlösse sich der digitalen Zukunft. Und welcher User will das schon!

Im Prinzip aber geht es dem wie besinnungslos kommunizierenden User letztlich nur darum sich im Netz optimal rüberzubringen. Das scheint das Einzige zu sein, was ihn wirklich interessiert. Komplett auf sich fixiert giert er nach Likes und ist abhängig vom Response – egal von wem. Wer das als User aber etwas kritischer sieht, kann neuerdings auf Smart Reply, Googles neueste E-Mail-Erweiterung zurückgreifen: Die Technik checkt die Mails, die ihm ins Haus schneien, erst einmal durch und bietet ihm dann, je nach Inhalt, automatische Antwortmöglichkeiten an, von denen er eine der Varianten, ganz nach Belieben, per Kopfdruck zurücksenden kann.

So gleicht der digitale Kommunikationsraum mittlerweile einer gigantischen Resonanzblase, in der die Echos von Milliarden Userstimmen, die meist nur von ihren Befindlichkeiten schnattern wie One-Way-Kommunikation, schier ewig widerhallen. I’m fine! Do you like it? Stoßartig, hektisch und immerfort in den Cyberspace hinausposaunter solipsistischer Schrott, der diesen mehr und mehr vermüllt.

Dass aber nicht nur die Sphären des Internets vom geistigen Unrat der User allmählich verseucht werden, sondern auch der Boden, die Meere und der Weltraum der Erde, die der materielle Abfall ihres Wohlstandsexzesses zusehends verdreckt und vergiftet, mag in diesem Zusammenhang ein nachgerade fatales Omen sein.

Erstaunlicherweise hat der Medienphilosoph Vilém Flusser schon vor Jahrzehnten die Phänomene dieser Gaga-Kommunikation in drei Hauptsätzen zusammengefasst: Erstens: Was nicht kommuniziert wird ist nicht, und je mehr es kommuniziert wird, desto mehr ist es. Zweitens: Alles, was kommuniziert wird, ist etwas wert, und je mehr es kommuniziert wird, desto wertvoller ist es. Drittens: Wer kommunizieren will, darf wenig informieren.

12:14:05 Hallo KOSENAME! Wie geht’s? Ich hab jetzt vier Stunden frei!
13:51:17 Gut ich hatte gerade das referat
13:51:26 1,0
13:51:48 Wuupwuup

Mittlerweile weiß sich der User offensichtlich perfekt zu vernetzen. Und dies am liebsten mit denjenigen, die er für Gleichgesinnte hält und seine Interessen auch wirklich teilen kann – das gibt ihm Halt und vor allem das Gefühl nicht allein zu sein auf dieser Welt.

Content-Sharing heißt die kommunikationstechnologische Netzwerkfunktion, die dieses gegenseitige Liken und Teilen erst möglich macht und dieserart Communitys jeglicher Couleur im Netz generiert. Exakt dieser Algorithmus ist letztlich die virtuelle Keimzelle, die es zu Massenansammlungen im Cyberspace überhaupt erst kommen lässt. Imaginäre Kollektive, die sich um x-beliebige Themenkreise herum formieren und in steter Fluktuation begriffen sind – je nach Situation entweder rasch anwachsend, oder sich auch schon wieder verflüchtigend. Nur wenige Communitys haben im Netz auf Dauer Bestand. Sind dessen Sphären doch extrem flüchtiger Natur und Ausdruck steter Hektik und Unruhe. Eine Art psychischer Hintergrundstrahlung, die die westlichen Zivilisationen gleichsam von innen heraus ergriffen zu haben scheint.

So sind auch die Contents, um die sich Milliarden User im Netz scharen intellektuell auf erschreckend niedrigem Niveau und – wie schon gesagt – extrem banaler Natur. Politische Debatten finden im Netz nicht statt. Und wenn, dann lediglich auf der Basis von weiß oder schwarz. Kurzatmig und oberflächlich: Das Netz produziert keine Inhalte. Sie zerfallen in Millionen User-Haltungen, die nur mehr einen Ausdruck zu kennen scheinen – Like oder Dislike. Auf dieses Denkfragment hat sich das Urteilsvermögen des Users längst eingepegelt.

Wie wild kreist er um neueste Apfelkuchenrezepte, Intervallfastenkuren für Ultrafette, Influencerblogs mit Tipps für erste Beautyeingriffe in der Pubertät, ultraniedliche Katzenclips in allen erdenklichen Lebenslagen oder ultimativ aufgeilende Boundagemethoden, die jeder kennen sollte. Es sind vor allem solche Themen, die zu Millionen virtuelle Massenblasen produzieren, die wie Schaumblasen aneinanderkleben, aber inhaltlich nicht das Geringste miteinander zu tun haben.

Natürlich kann es hin und wieder auch zu jenen Wahnsinnsblasen kommen, die sich im Cyberspace blitzartig um Trivialthemen herum bilden und jäh aufblähen, die verwirrte oder spröde Geister ins Netz gestellt haben und aus völlig unerfindlichen Gründen urplötzlich viral gehen, wobei diese die Usergemüter mächtig erhitzen und rund um den Globus für Netzfuror sorgen.

Aber auch jede einzelne dieser Netzblasen ist beileibe nicht homogen, wie man glauben könnte. Denn kein Einzelinteresse allein lässt auf die Person dahinter schließen, die – aus welchen Gründen auch immer – dieser oder jener Vorliebe gerade im Netz nachhängt. So bleibt der Cyberspace eine ungeheure, geradezu furchteinflößende Ansammlung egomaner Vorliebeadepten, die sich zu Milliarden obsessiv im Netzgeschehen aalen sich dort aber persönlich meist absolut fremd bleiben.

Die Massen des Cyberspace sind Schimären. Imaginäre Kollektive, die mit den realen Massen, die einstmals sogar Revolutionen anstifteten und überkommene Systeme zum Einsturz brachten nur noch den Namen gemeinsam haben. Denn jenen fehlt der Körper. So ist auch der User im Grunde ein merkwürdiges Wesen das nicht mehr so recht zu wissen scheint wo es eigentlich hingehört. Einerseits identisch mit dem Cyberspace, andererseits aber nur mehr der Schattenriss seiner selbst, wenn es sich in der Öffentlichkeit zeigt und abwesend bei irgendwelchen Freunden im Netz nach Gemeinsamkeiten sucht.

Die Suggestion von Gemeinsamkeit scheint ein wesentlicher Stimulus, der den User abhängig nach dem Cyberspace werden lässt. Imaginäre Sphären voll von Milliarden potenzieller Kontakte, die dessen brachliegenden Zusammengehörigkeitsgefühl etwas auf die Sprünge helfen, tatsächlich aber nur seine geheimsten Begierden befriedigen sollen.

So sind es die heimlichen libertinösen Begierden des Users, die ihn süchtig nach dem Cyberspace machen und zu dem werden lassen, was ihn gegenwärtig vornehmlich auszeichnet – der letzte Schrei nach dem letzten Schrei. Und genau an diesem Punkt setzen die Strategien der Netzwerkmegakonzerne rigoros an, indem sie den User an seiner Obsession packen, für ihn die natürlichen Funktionen der realen Welt außer Kraft setzen und ihm stattdessen fiktive Sphären seiner tiefsten Sehnsüchte offerieren, die in seinem Kopf für Dauererregung sorgen sollen. Hermetisch abgeschottet von der physischen Realität des Lebens, die ihm mehr und mehr zur Fremde wird.

Und dennoch: Vor knapp 10 Jahren schien diese Tatsache durch die Ereignisse des Arabischen Frühlings auf einmal widerlegt zu sein, denn die blutigen und tatsächlich politisch motivierten Proteste, Aufstände und Revolutionen, die im Dezember 2010 zunächst in Tunesien ihren Ausgang nahmen und in der Folge die Staaten der Arabischen Halbinsel und Nordafrikas erschütterten, wären ohne Facebook und Twitter so nicht möglich gewesen. Wohl zum ersten Mal in der Geschichte führte die Internet-Technologie des Content-Sharing ganz offensichtlich zur physischen Manifestation einer ursprünglich virtuellen Masse die gleichsam über Nacht Millionen Aufständische auf die Straßen brachte und diese im Tahrir-Platz Kairos rasch das Symbol ihrer Revolte finden ließ. An einem realen Ort, an dem sie sich zu Abertausenden solidarisch zusammenfanden. Über Nacht war der Tahrir-Platz zu einer Art Kopie der sozialen Netzwerke geworden.

Am 4. Februar 2011 steht dort ein ärmlich gekleideter älterer Mann mit einem selbstgemalten Plakat mitten in der Menge. „Das ist eine Facebook-Revolution, eine Revolution der Jugend. Sie hat's vollbracht. Mein Dank an die Jugend Ägyptens!“, steht neben einem übergroßem Facebook-Logo darauf geschrieben. Fast alle Wortführer des Volksaufstandes kommunizieren über Twitter und sind in kritischen Facebook-Gruppen mit Hunderttausenden unterwegs. „Kullina Khaled Said“
heißt eine dieser Gruppen, die festlegt, dass die Proteste exakt am 25. Januar 2011 beginnen sollen.

In der Nacht zum 28. Januar 2011 schaltet das Regime das Internet in Gegenoffensive komplett ab. Ein Glücksfall für die Aktivisten, glaubt Andreas Jacobs, der damals Leiter des Büros der Konrad-Adenauer-Stiftung in Kairo ist: „Man kann sagen, dass diese Revolution ja erst dann an Dynamik gewann, als sich die Protestbewegung quasi vom virtuellen in den realen Raum rein bewegt hat“ kommentiert er nachträglich das Geschehen. Im Grunde hätte der Bewegung gar nichts Besseres passieren können meint Jacobs. So hätte sich die digitale Zivilgesellschaft schlussendlich in die reale Wirklichkeit übertragen.

In der Folge machen die Vorgänge im Arabischen Frühling Schule. Manche beginnen schon von Social Media Revolutionen in ganz Europa zu träumen und glauben sich von den am 15. Mai 2011 in Spanien ausbrechenden Unruhen bestätigt.

Zwar war das Land an den Folgen der Weltfinanzkrise im Jahr 2007 schon lange zuvor ökonomisch und sozial schwer in die Krise geraten – mit immens hohen Arbeitslosenzahlen und rapider Verarmung der Bevölkerung – große Proteste aber waren bislang ausgeblieben. Erst als spanische Jugendliche über Facebook oder Twitter für den 15. Mai zu öffentlichen Demonstrationen gegen das allgemeine Desaster ausriefen, gingen in über 50 Städten, dabei allein in Madrid mehr als 80.000 Menschen auf die Straßen. Die Bewegung 15-M war geboren, deren Anhänger in den folgenden Wochen die Plätze der spanischen Städte blockierten, rund um die Uhr okkupierten und sich dabei über das Internet perfekt organisierten. Als wichtigste Facebook-Seiten fungierten in diesem Zusammenhang Democrazia real Ya mit 369.369 Fans und Spanish Revolution mit 153.212 Fans. Aber auch über Blogs, Foren, Twitter und YouTube wurde intensiv kommuniziert. (1)

„Die Puerta del Sol wurde zur Ágora, auf der die Menschen über alles sprachen, was sie interessierte, über den Arbeitsmarkt, Umwelt, Bildung – ein öffentlicher Raum, zu dem nicht nur Politiker und Journalisten Zugang hatten“, erinnert sich Carlos Paredes, einer der Sprecher des ehemaligen Aufstands. (2) „Die Entscheidungen trafen wir gemeinsam – für alle sichtbar. Ohne Teilhabe und Transparenz kann keine Demokratie funktionieren. Das war das Fundament für den tiefgreifenden kulturellen Wandel.“

Wie immer animierend diese Äußerungen auch sein mögen, so befremdlich erscheinen sie doch zugleich. Denn selbst auf der Plaza de Cataluña in Barcelona, den jugendliche Aufständische seit dem 15. Mai besetzt hielten, konnten diese das Twittern offensichtlich nicht lassen, obwohl sie sich dort von Angesicht zu Angesicht gegenübersaßen, um gemeinsam über die Zukunft der spanischen Gesellschaft zu debattieren. Das belegt die Tatsache, dass am 27. Mai, dem Tag, an dem die Polizei diesen Platz gewaltsam räumte, auf einmal #Tags wie #spanishrevolution, #democraciarealya, oder #democraciareal auf dem Platz deutlich weniger getwittert wurden.

Zudem stellt sich die Frage, warum sich die Aufständischen nicht vorher schon mit den gravierenden Problemen ihres Lands beschäftigt hatten, die sich mit dem Ausbruch der internationalen Finanzkrise 2007 in Spanien relativ rasch entwickelt hatte, und nun schon seit Jahren das Land schwer in Mitleidenschaft gezogen hatten. Diese Unzufriedenen hätten sich also schon viel früher über das Internet dazu verabreden können, sich zusammenzusetzen, um über die katastrophale Situation gemeinsam nachzudenken und zu beraten. Wie sagte Paredes doch so schön: Ohne Teilhabe und Transparenz kann keine Demokratie funktionieren.

Warum aber reagierten die Jugendlichen erst dann, als sie durchs Internet dazu aufgefordert wurden? Das World Wide Web wäre doch der perfekte Ort gewesen, sich schon vorher über die eigenen Grenzen hinweg miteinander ins Benehmen zu setzen und sich gegenseitig grundlegende Texte oder profunde Analysen der komplexen Zusammenhänge dieser politisch-sozialen Misere zukommen zu lassen. Und dies nicht nur national, sondern vor allem auch global, denn noch gibt es auch kluge Köpfe auf dieser Welt, deren Gedanken man kennen sollte. All dies wäre übrigens auch ganz im Sinne Tim Berners-Lee gewesen der das World Wide Web nicht zuletzt auch aus diesen Gründen vor 30 Jahren erfand.

Wissensvermittlung und Aufklärung aber scheinen vom User im Netz nicht weiter verfolgt zu werden. Er verabredet sich im Netz und weiß sich dort zu organisieren. Im Grunde aber scheint er mehr oder weniger entpolitisiert und debattiert nicht mehr über Wohl und Wehe der Gesellschaft. Und dies schon gar nicht mit Anderen. Weder in der Öffentlichkeit noch im Internet.

Manchmal aber scheint ein pointierter Aufruf im Netz zu genügen um manch einen der User auf die Straße zu bringen. Offenbar hat bei ihm dann der Funke gezündet – aber erst durchs Netz und nicht aufgrund der eklatanten Probleme unter denen er und viele in der Bevölkerung alltäglich leiden.

Aber offenbar wird der User von seinen spontanen Aktivitäten auch kalt erwischt. Zwar hat er wie im Nu die Mauern zwischen virtuellem und realem Raum durchbrochen und ist nun in der Wirklichkeit angelangt, muss sich jetzt aber auch auf der Stelle legitimieren und Farbe bekennen. Wie aber sollte ihm das ohne jeglichen Vorlauf gelingen? Also muss er sich erst einmal mit anderen beraten und fängt notgedrungen und eher hilflos bei den Idealen an. Was sind die Prinzipien der Demokratie? fragt er sich mitten im Gedränge des Aufstands während er von Sicherheitskräften ins Visier genommen wird und ratlos twittert, weil er richtig empört ist. Das scheint für ihn offenbar erst einmal völlig zu genügen, um aus der Bredouille zu geraten.

„Hoffnungen darauf, eine globale Bürgerschaft entstehen zu lassen, schienen durch das Internet umsetzbar, allerdings zeigte sich in der Analyse, dass deutlich weniger Beiträge im Netz "transnational" ausgerichtet waren als vermutet“, schreibt Marianne Kneuer von der Arbeitsgruppe "Politik und Internet" der Universität Hildesheim in ihrer Studie Soziale Medien in Protestbewegungen. In dieser untersuchte sie die digitalen Kommunikationsmuster, die sich vom Jahre 2011 an – also nach vier Jahren weltweiter Finanzkrise in den Sozialen Medien in Ländern wie Deutschland, Großbritannien, den USA, Spanien und Portugal gezeigt hätten. (3)

„Die transportierten Botschaften – ob Wort, Bild oder Link – bezogen sich überwiegend auf nationale Belange“, so Kneuer. „Globale Akteure wie IWF und Weltbank oder internationale Themen wurden dagegen kaum adressiert. Eine transnationalisierte Kommunikation als Weg, um sozusagen eine globale Antwort auf die globale Banken-, Finanzkrise und ihre Folgen zu formulieren" sei somit "nicht zu erkennen" gewesen.

Auffallend findet es die Wissenschaftlerin zudem, dass "breite inhaltliche Debatten" in den sozialen Netzwerken eher nicht geführt, und von Kommentaren auf Plattformen wie Facebook und Twitter wenig Gebrauch gemacht wurden. „In den Protestbewegungen wurden eher "Likes" gesetzt oder Beiträge auf Twitter retweeted. Ein virtueller Raum öffentlicher Beratschlagung (Deliberation) entstand so nicht“, erläutert Kneuer. „Wenn viel geschrieben wurde, dann eher, um Organisatorisches zu klären – und das wiederum meist im lokalen Bezug!“

Wichtiger als die inhaltliche Debatte sei die "Verbreitung von Emotionen oder Symbolen und die Mobilisierung von Aktivisten" gewesen“, stellt Kneuer fest. Zwar müsse das nicht heißen, dass keine programmatischen und inhaltlichen Diskurse in den Protestbewegungen existiert hätten, diese wären nur nicht in sozialen Netzwerken geführt worden. Die meisten "Follower" nutzten die Plattformen lediglich als "Wohlfühlaktivisten", da sie so das Gefühl gehabt hätten, Einfluss auszuüben, ohne mehr tun zu müssen, als einer Facebook-Gruppe beizutreten.

Auf diese Weise könnten sich Sympathisanten und Aktivisten die Illusion politischer Partizipation erschaffen. So lade der Like-Button auf Facebook dazu ein, sich vom Sofa oder Schreibtisch aus mit einem Klick an einer sozialen Bewegung zu beteiligen. So entstehe aber lediglich nur eine gefühlte und symbolische Partizipation, "die gleichwohl keine oder kaum Wirkung entfaltet".

So sei auch die Occupy-Protestbewegung 2011 vorschnell als "neues Phänomen" globaler politischer Aktivitäten betrachtet worden, fügt Kneuer an. Eine internationale Bewegung, die sich explizit auf den Arabischen Frühling und die Besetzung des Tahrirs-Platzes in Kairo bezog und demzufolge den Zuccotti Park in Lower Manhattan besetzte und diesem wieder seinen alten Namen verlieh – Liberty Plaza Park. Eine ebenfalls über die Sozialen Netzwerke massenhaft initiierte Aktion, zu der der Gründer der Adbuster Media Foundation, Kalle Lasn, für den 17. September 2011 die User zur Revolte aufrief, der in der Folge zur bislang größten Protestbewegung Nordamerikas führen sollte:

#OCCUPYWALLSTREET. Seid ihr bereit für einen Tahrir-Moment? Strömt am 17. September nach Lower Manhattan. Baut Zelte, Küchen, friedliche Barrikaden und besetzt die Wall Street.“ (Adbusters-Website am 13. Juli 2011)

Was aber ist aus diesen Bewegungen oder Volksaufständen geworden, und was haben sie tatsächlich bewirkt? Politische, wenn auch relativ instabile Neuanfänge in Tunesien, reaktionäre Systemumbrüche in Ägypten, chaotische Bürgerkriege in Libyen und Syrien, und autoritäre Kontrollen in Bahrein und im Jemen. Und daneben auch die Gründung einer neuen politischen Partei in Spanien (Podemos), wohingegen sich Occupy nach nicht allzu langer Zeit in Luft auflöste und die Wallstreet unbeirrt weitermacht.

Und nun FRIDAYS FOR FUTURE. Tut endlich was für unsere Zukunft! fordern Jugendliche auf den Straßen. Stoppt den Klimawandel! Eine Revolte, die im Grunde jeden tangiert und nicht wenige zutiefst in ihrem Herzen berührt – man fühlt sich wie in einem Traum der Hoffnung erweckt. Rund um den Globus demonstrieren mittlerweile über eine halbe Million Jugendliche in unzähligen Städten gegen Staat und Gesellschaft, und fordern diese dazu auf, bitte an die Zukunft zu denken.

Politik und Gesellschaft aber stecken fest. Ihnen fehlt jegliche Perspektive: Man hätte alles in der Hand und natürlich könne man immer mehr tun!, lassen Verantwortliche die Aufgebrachten wissen und fahren in ihrem Geschäft fort. Waren es nicht schon immer Jugendliche in der Geschichte, deren Widerwille und Aufmüpfigkeit wirklich zu gravierenden gesellschaftlichen Veränderungen geführt hatten? fragt man sich im Traum. Wacht auf und reibt sich die Augen. Aber wo bleiben die Anderen?

Von Politik und Gesellschaft enttäuschte Wissenschaftler sind gegenwärtig offenkundig die einzigen, die den Jugendlichen zur Seite stehen – SCIENCE FOR FUTURE. Und damit einer weltweiten Bewegung, die von einer schwedischen Jugendlichen namens Greta Thunberg initiiert wurde, die 16 Jahre alt und völlig unscheinbar ist.

Dies aber nur auf den ersten Blick. Denn wenn sie zu sprechen beginnt, halten viele plötzlich inne und hören zu, was sie eigentlich längst verlernt zu haben schienen. Offenkundig weniger beeindruckt von dem, was sie sagt, sondern vielmehr getroffen von der Art und Weise, wie sie es zum Ausdruck bringt. So einfach, uneitel und klar, dass jeder versteht, weil er sich im Innersten angesprochen fühlt.

Würde man das Potenzial einer derart Konstellation auf einen märchenhaften Punkt bringen wollen, käme einem vermutlich erneut der Film Der Tag an dem die Erde stillstand in den Sinn. Diesmal aber wären es keine Außerirdischen, die auf die Erde kommen würden, um die Menschen davon abzuhalten, den Planeten zu zerstören. Sondern stattdessen ein ganz einfaches Mädchen, das urplötzlich um die Ecke böge und einzig durch ihre Ehrlichkeit und ihren unbedingten, völlig natürlichen Willen, die Herzen der Menschen gewänne, und ein Weiter wie bisher! künftig unmöglich machen würde.

So wäre es auch kein elektromagnetischer Impuls, der die Welt vorübergehend zum Anhalten brächte. Sondern eine Art innerer Prozess, den die Wahrheit des Mädchens in den Menschen auslösen würde und sie endlich zur Besinnung brächte. Ein Zauber, der Zukunft verspräche.

Doch die Entwicklung der Realität nimmt einen ganz anderen Verlauf: Im Sommer des letzten Jahres sitzt Greta Thunberg wochenlang einsam vor dem schwedischen Reichstag und hält ein Schild in der Hand – Skolstrejk för klimatet. Sie hätte es einfach gemacht, sagt sie heute. Ganz ohne Hintergedanken. Sie musste es einfach tun, weil sie von ihrem Anliegen tief überzeugt war. Sie könne nicht über die Klimakatastrophe reden und einfach weitermachen. Sie wisse, was sie tue.

Eines aber weiß Greta Thunberg offenbar aber nicht – sie wird bei ihren einsamen Aktionen heimlich gefilmt, kommt ins Internet und wird über Nacht berühmt. Denn vom 20. August 2018 an berichtet die von Ingmar Rentzhog 2017 gegründete schwedische Aktiengesellschaft We Don’t Have Time über Facebook und Twitter und YouTube über deren Demonstration. „Ich habe dann guten Kontakt mit Greta und ihrer Familie bekommen“, sagt Rentzhog. „Ich habe Greta so auch mit einer Menge geholfen und dazu auch mein Kontaktnetzwerk verwendet.“ Greta Thunberg geht prompt viral und die Dinge nehmen ihren Lauf – sie wird zur Gallionsfigur. Ohne Greta kein FRIDAYS FOR FUTURE!

Offenbar reicht nur noch ein Netzstimulus, um heutzutage Massen zu mobilisieren. Massen, die sich nur noch im Netz formieren und urplötzlich auf die Straßen überschwappen. Das ist die reale Kehrseite des Traums, der plötzlich für Ernüchterung sorgt. So ist Greta Thunberg mittlerweile ein Megastar und wird (natürlich) bereits als Friedensnobelpreiskandidatin gehandelt – das Schlimmste, was dieser Jugendlichen in ihrer Medienrolle passieren konnte. Jetzt hat sie schon die Goldene Kamera, wer weiß, was da alles noch auf sie zukommt? Den Hype, der um sie gemacht wird, kann keiner mehr bremsen, sie selbst am Allerwenigsten. Das aber scheint Greta Thunberg zu wissen: „Bald ist das alles wieder vorbei, sagt sie und verstummt. Dann seid ihr wieder allein, ich aber nicht! fügen ihre großen Augen unhörbar hinzu.

Der Autismus – das Asperger-Syndrom, scheint Greta Thunberg zu schützen. Und dies wohl, weil sie aufgrund ihrer Erkrankung dazu gezwungen ist, die Dinge so schonungslos direkt und überdeutlich wahrzunehmen und eins zu eins in sich aufzunehmen. „Ich bin Realistin“, sagt sie. „Ich sehe Fakten!“ Eine stoische Klarheit scheint da aus ihr zu sprechen. Aufmerksamkeit und Achtsamkeit müssen wieder in die Welt! meint man sie sagen hören. So dumm aber ist Greta Thunberg nicht. Sie will niemanden bekehren, so etwas hilft nie, das weiß sie offenkundig auch.

Die Bilder von Greta Thunberg da einsam vor dem schwedischen Reichstag erinnern an das Märchen Das Mädchen mit den Schwefelhölzchen von Hanns Christian Andersen. Mit dem entscheidenden Unterschied jedoch, dass Greta Thunberg nicht wie das Mädchen im Märchen bei eklatanten Minusgraden mitten im bevölkerten Kopenhagen im Schnee hockt und schließlich erfriert, sondern vielmehr bei brütender Hitze unter der stechenden Sonne von Stockholm, das übrigens noch weit nördlicher als Kopenhagen liegt.

Courage ist gut. Aber Ausdauer besser! möchte man den Jugendlichen zurufen. Der Satz aber ist nicht von Greta Thunberg, sondern von Theodor Fontane.

 
(1)  Analyse über den Einfluss von Social Media auf die spanische Revolution. Tobesocial.de. 30/05/2011
(2)  Hans-Günter Kellner: Die Erben der Protestbewegung. Deutschlandfunk
(3)  Marianne Kneuer, Saskia Richter: Soziale Medien in Protestbewegungen. Campus Verlag, Frankfurt/New York, 2015