AUF ÄUSSERST DÜNNEM EIS
Teil 2
„Wenn wir an uns selbst denken, identifizieren wir uns eher mit System 2, dem bewussten und logisch denkenden Selbst, das Überzeugungen hat, Entscheidungen trifft und sein Denken und Handeln bewusst kontrolliert“, so Kahnemann. „Obwohl System 2 von sich selbst glaubt, im Zentrum des Geschehens zu stehen, ist es das unwillkürliche System 1, in welchem spontan die Eindrücke und Gefühle entstehen, die unser Verhalten steuern und die Hauptquellen der expliziten Überzeugungen und bewussten Entscheidungen von System 2 sind. … Man kann die beiden Systeme mit Akteuren vergleichen, die jeweils individuelle Fähigkeiten, Beschränkungen und Funktionen besitzen ...“ (1)
Gesetzt der Fall, es würde sich bei den beiden Denksystemen tatsächlich um Kollegen handeln wie Kahneman insinuiert, das Chaos, das sich aus einer derartigen Konstellation ergäbe, wäre kaum vorstellbar: Denn unter den beschriebenen Arbeitsbedingungen würden die beiden mehr oder weniger gleichberechtigten Akteure nachgerade zwangsläufig zu Widersachern, die sich immer wieder in die Quere kämen, da sich ein jeder von beiden als Chef verstehen müsste, der alleine fürs Denken verantwortlich ist. Eine Rivalität, die grundsätzlich nicht zu befrieden wäre und den Menschen derart verstören würde, dass er bald handlungsunfähig wäre.
Auf die reale, zerebral-kognitive Ebene übertragen, hat das Gehirn allerdings einen relativ rigiden Mechanismus installiert, der dieses drohende Chaos unterbindet oder zumindest entschärft. Vermittelt das Gehirn dem Menschen doch den Eindruck, außer seinem bewussten Denkvermögen (System 2) kein weiteres Denksystem zu besitzen. Das liegt schlichtweg daran, dass das Schnelle Denken des Menschen (System 1) völlig automatisch in dessen Unterbewusstsein operiert und sich deshalb seiner Wahrnehmung und seinem Erleben entzieht. Deshalb gibt es für den Menschen nur eine Art des Denkens – das abwägende und Konzentration erfordernde bewusste Denken nämlich, weshalb es auch durchaus nachvollziehbar ist, wenn dieser der Illusion unterliegt, dass es diese Denkweise wäre, die ihm das Gefühl von Handlungsmacht und Entscheidungsfreiheit verleiht – also diejenige Fähigkeit, die ihn vor allen anderen Lebewesen auszeichne und zu einem vernünftigen, die Dinge kritisch hinterfragenden Wesen mache, das sich auch dementsprechend verhalte.
DIE IDENTITÄT DES MENSCHEN – EIN FOLGESCHWERER IRRTUM
Doch mit diesem folgeschweren Irrtum steht die Identität des Menschen, sein Selbstverständnis auf tönernen Füßen. Denn in Wahrheit ist es dessen unbewusstes Denksystem, in welchem spontan jene Eindrücke und Gefühle entstehen, die sein Verhalten steuern und im Grunde zu den Hauptquellen seiner expliziten Überzeugungen und bewussten Entscheidungen werden. In diesem Zusammenhang steuert und reguliert dieses Denksystem, das binnen eines Bruchteils einer Sekunde völlig automatisch und autonom funktioniert, kognitiv-neuronale Prozesse, die den Menschen in die Lage versetzen, blitzschnell auf die Außenreize seiner Umgebung reagieren zu können. Und dies nicht nur im Hinblick auf plötzlich auftretende Gefahren, sondern vor allem auch bei Routinetätigkeiten im Alltagsgeschehen oder beispielsweise auch beim Autofahren. Müsste der Mensch in Situationen dieser Art immer erst einmal groß nachdenken müssen, bevor er reagieren kann, wäre er rasch lahmgelegt und bald nicht mehr überlebensfähig.
Doch dieses Denksystem, das ein Reaktions- und Entscheidungssystem im Turbogang ist, arbeitet auch auf der Basis von viel Unsicherem und wenig Verlässlichem, da ja in Windeseile gedacht und gehandelt werden muss. Zum Nach-denken mangelt es im System 1einfach an Zeit, deshalb wimmelt es in dessen Bereich auch vor Halbgarem und Vor-urteilen: Inhalte, die den Menschen mental ziemlich durcheinanderbringen und verstören, wenn sie ihm denn bewusstwerden. So arbeitet System 1, das – analog zum System 2– nicht mit einen im Gehirn exakt lokalisierbaren und abgegrenzten Bereich identifiziert werden kann, wie ein „Berserker“ als eine Assoziationsmaschine der Sonderklasse, die alles Mögliche mit Unmöglichem und alles Unmögliche mit Möglichem verknüpft – einzig mit dem Ziel, den Menschen orientiert und reaktionsfähig sicher durch den Tag zu bringen.
Doch um diesen Preis nimmt das unbewusste Denken auch schwerwiegende Täuschungen, in manchen Fällen sogar Selbsttäuschungen in Kauf, wobei es darüber hinaus nicht selten auch fatalen kognitiven Verzerrungen und Illusionen unterliegt. Und es glättet Widersprüchlichkeiten, erstickt jeden Zweifel und ist darauf aus, sich kohärente Geschichten über die Welt zusammenzuzimmern – fragmentierte Narrative voller Mutmaßungen und Vorurteilen.
Das Gehirn ist voller Täuschungsmanöver und fern davon, dem Menschen dauerhaft Vernunft und Besonnenheit zu gewährleisten. Zu sehr schwankt es zwischen seinen rationalen Kapazitäten und den auf instinktiven, vorurteilsbehafteten und groben Vereinfachungen beruhenden Faktoren des unbewussten schnellen Denkens hin und her. Und die daraus resultierende Instabilität seines Wesens macht ihn bis heute zu einem unberechenbaren Zeitgenossen, der schnell auch mal die Fassung verlieren kann.
In diesem Kontext ist es von großer Bedeutung, dass diese kognitiven Dysfunktionen nicht erworben sind, sondern von Geburt an in einem gesunden und intakten Gehirn verankert sind – Fehlschaltungen und Programmierfehlern nicht unähnlich. Aus diesem Grund bringt es auch nicht das Geringste, einem Menschen, der solchen Denkfehlern unterliegt, diese mentalen Verirrungen ausreden zu wollen – etwa so, als wolle man jemanden enerviert an den Schultern packen und kräftig durchschütteln, um ihm das Stottern auszutreiben. Diese Tatsache sollten auch Politiker endlich zur Kenntnis zu nehmen, die vom Bürger durch gutes Zureden beispielsweise mehr Engagement für die Demokratie einzufordern versuchen, und diese mit Parolen wie „Solidarisiert Euch und geht für die Demokratie auf die Straße!“ animieren wollen, jedoch bei einem nicht kleinen Teil der Bevölkerung damit nicht das Geringste zu bewegen. Wie es auch ebenso absolut sinnlos ist, Anhängern von Verschwörungstheorien den fatalen Irrtum, dem sie unterliegen, durch kluges Reden vor Augen führen zu wollen.
DER MENSCH GEHT SICH SELBST AUF DEN LEIM
Stellt die unterschwellige Dominanz von System 1 schon eine gehörige Beeinträchtigung des menschlichen Denkvermögens dar, so gründet das eigentliche Dilemma in diesem Zusammenhang auf der Tatsache, dass die grobgestrickten Vorstellungsmuster von der Welt, und die viel zu kurz gedachten Urteile über deren Realität, die für das SCHNELLE DENKEN so charakteristisch sind, in diesem unbewusst arbeitenden System fatalerweise nicht gedeckelt bleiben. Stattdessen schwappen diese Gedankensplitter völlig unkontrolliert aus dem Unterbewusstsein in den Bereich des bewussten Denkens hoch, wo dieser halbgare Gedankensalat sich latent immer wieder in den Denkvorgang einmischt und einfärbt, diesen zuweilen gehörig durcheinanderwirbelt und letztlich auch Chaos anrichten kann, ohne dass der Mensch davon irgendetwas mitbekommen würde. So fällt dieser, der sich Homo sapiens nennt, immer wieder auf seine eigenen unausgegorenen Gedanken und Vorurteile herein, und geht sich damit selbst auf den Leim. Doch selbst wenn man es durch bewusstes Nachdenken besser weiß, bedeutet es doch immer eine ziemliche Anstrengung, die unwillkürlich und mühelos von System 1 gelieferte Anschauung zu verwerfen und sich für die bewusste, Anstrengung, Konzentration und Ausdauer erfordernde Perspektive von System 2 zu entscheiden.
Doch die mentale Attraktion, die die unbewussten Gedankenfragmente auf das denkende Bewusstsein ausüben, werden von diesem allzu häufig ihrer groben Struktur entsprechend nachgerade automatisch mit Sinn aufgeladen, ist das Bewusstsein doch in erster Linie eine Sinnsuchmaschine, die in allem und jedem Sinn und Bedeutung zu erkennen versucht: Demzufolge erhalten diese noch eher abstrakten Gedankensplitter im bewussten Denken jene semantische Bedeutung, die in deren fragmentarischen Struktur und verkürzten Sichtweise auf die Dinge bereits ansatzweise angelegt und vorhanden ist, nun aber aufgrund ihrer verkürzten Sichtweise und nicht zu Ende gedachten Urteile über die Welt zwangsläufig zu einer kurzsichtigen und eher reaktionären Haltung im Menschen führen.
In diesem Sinne wird dieser Gedankenschrott mit seinen hirnrissigen und fragmentierten Simplifizierungen für eine zunehmende Menge von Menschen angesichts des allgemeinen Chaos in ihnen und um sie herum in der Welt immer anziehender, da ihnen kurze, vorschnelle, ja dreist-verlogene Antworten das Gefühl geben, mit diesen Parolen endlich der psychischen Bredouille ihrer Ohnmachtsgefühle entkommen zu können – gestanzte Gedanken und Gefühle, die ihnen unter der Hand zu einer Art Blaupause für ihr rigides und letztlich verarmtes Denken werden – System-1-Denker allesamt. Denn wer will es sich im Leben heute noch unnötig kompliziert machen und sich ermüdenden Denkprozessen hingeben, die angesichts des Zerfalls der Welt und des mehr und mehr um sich greifenden Nihilismus für viele ohnehin zu nichts mehr führen als zu noch mehr Angst und Unsicherheit. Besser ist es da doch, sich rechtzeitig mit reaktionär-fundamentalistischer Munition zu wappnen, um den Diktatoren der Welt zur Macht zu verhelfen und ihnen beim Sturm auf die kaputte Welt zur Seite zu stehen.
SCHNELLES DENKEN FÜHRT AUF DAUER ZUR GEISTIGEN ÖDNIS
Der Mensch wirkt erschöpft – am Ende mit seinem Latein: Seine Gesellschaften zerfallen, ohne dass er etwas dagegen unternehmen könnte. Er redet, aber es passiert nichts! Manchmal hat es den Anschein, als sähe er der Entwicklung der Dinge wie ein Zuschauer zu – ratlos und gleichsam wie neben sich. Die geistige Schwäche, die ihn erfasst hat, tritt mehr und mehr zutage. Und seine offenkundige Unfähigkeit, die schwerwiegenden Probleme, die aus seinem Raubbau an der Natur und aus seinem konfliktreichen gesellschaftlichen Zusammenleben auf dem Planeten resultieren, tatkräftig anzupacken und klug zu lösen.
Dabei hat es der Mensch nicht leicht auf Erden. Und ein Wunderwesen, das sich die Erde untertan machen würde, wie er einst glaubte, ist aus ihm nun wahrlich nicht geworden. Ganz im Gegenteil. Einige seiner Anlagen, die ihm von Geburt an zu eigen sind, schwächen ihn sogar über Gebühr. So vor allem die ihm eigene Art und Weise zu denken, die ihm vieles erschwert und Fallstricke aller Art für ihn bereithält. Teilt sich des Menschen Denksystem, wie wir gesehen haben, doch relativ widersinnig in zwei Systeme auf, die im Grunde völlig gleichberechtigt und unabhängig nebeneinander her arbeiten, wobei das Bewusste Denksystem darüber hinaus keine Ahnung davon hat, dass es im Unterbewusstsein einen automatisch arbeitenden Kollegen gibt, der ihm ab und an auch noch in die Suppe spuckt: So scheint es in System 1 fatalerweise ein Leck zu geben, das menschliche Denken gerät in den Nachteil. Zumindest zuweilen.
In diesem Zusammenhang macht es Sinn, sich noch einmal Daniel Kahnemans Ausführungen zu den beiden System des menschlichen Denkens in Erinnerung zu rufen, der in diesem Zusammenhang eindringlich darauf hinweist, in welch gravierender Form das unbewusste Schnelle Denken (System 1) mit seinen eklatanten Fehleinschätzungen und weitreichenden Vorurteilen ins bewusste Denken (System 2) einzudringen vermag, um dort wirkmächtig und gefährlich mitzuspielen – und dies allein aufgrund von neuronalen Fehlschaltungen im Gehirn, die diesen kognitiven Denkfallen zugrunde liegen. Und unter bestimmten Umständen kann sich das Schnelle Denken bei Menschen sogar zum Leitsystem ihres Fühlens, Denkens und Verhaltens entwickeln. Dann nämlich, wenn diese ihr Gehirn ohne irgendeine selbstkritische Barriere nicht im Zaum zu halten wissen, oder dies aus den unterschiedlichsten Gründen ganz einfach nicht mehr wollen.
Und genau diese halbgare Geistesverfassung ist es, die gegenwärtig von vielen Menschen Besitz ergreift. System-1-Denker allesamt, die feige und verbiestert einer Gott sei Dank noch äußerst bunten und lebendigen Welt zu entfliehen trachten, in der sie aus den unterschiedlichsten Gründen einfach nicht klar kommen, sich hasserfüllt ihren minderwertigkeitsbeladenen Kleinkleinfantasien hingeben, und nachgerade folgerichtig in die von Hass und Häme erstarrten Sphären des Radikalismus abtauchen, wo sie von einem ewigen Reich jenseits aller demokratischen Werte und Verhältnisse träumen und von einem starken, allmächtigen Mann, unter dessen weit ausladenden Fittichen sie sich endlich geborgen und sicher fühlen dürfen. In geistig finsteren Gesellschaften, die für das Überkommene, Abgestandene und Scheinheilige im Leben stehen und durch gnadenlose Unterdrückung aufrechterhalten werden. In rechtlosen Gefilden, durch die sich rassistisch geklonte Zeitgenossen im Denkgleichmarsch wie hypnotisiert dahinbewegen und jubeln und grölen, weil sie endlich unter ihresgleichen sind und ihre gesellschaftliche Situation der Enge und Knechtschaft mit Freiheit verwechseln. Masochisten aller Länder vereinigt euch!
DER MENSCH – EIN DIGITALER SISYPHOS
Unter dem Einfluss dieses Immer-an-der-Oberfläche-entlang-Denkens verliert die Gesellschaft allmählich an Farbigkeit und Dimension wie das Denken ja auch. Zudem kommt ihr die lebhafte Sinnhaftigkeit abhanden, die die System-1-Denker, die überall wie Pilze aus dem Boden schießen, mit der in ihnen herrschenden emotionalen Wüstenei zusehends vertrocknen lassen – die Köpfe und Herzen und Straßen entleeren sich gleichermaßen.
Das Miteinander des gesellschaftlichen Lebens verödet, und mehr und mehr ziehen sich die Einzelkämpfer und Eigenbrötler in die Regionen der virtuellen Öffentlichkeit zurück – in jene des Internets nämlich, von dem die zu Usern mutierten Menschen selbst auf der Straße mit immer gezücktem Smartphone offenbar nicht mehr lassen wollen, weil das Oberflächendenken ablenkt und entlastet, und der Blick in das Gesicht des Gegenübers womöglich nur Irritationen mit sich bringen würde.
Wobei sich der User das Denken in den SOCIAL MEDIA überhaupt ersparen sollte, wenn er denn nicht nach stundenlangem geistlosem Scrollen, Liken und Posten an Brain rot erkranken will – der Hirnfäule: Eine sich pandemisch verbreitende Zivilisationskrankheit, welche die Redaktion des Oxford-Wörterbuchs gerade zum Wort des Jahres kürte.
Aus dem Menschen ist ein User geworden. Und aus dem User der digitale Sisyphos. Mal sehen, wie der nächste Schritt wohl aussehen wird: Vermutlich ist es der vom digitalen Sisyphos zum Cyborg.
(1) Daniel Kahneman: SCHNELLES DENKEN, LANGSAMES DENKEN. Siedler Verlag. München 2012. S. 33