Zur Geschichte und Gegenwart des Menschen / Teil 1
EVOLUTIONÄRER WERDEGANG
Der desparate Zustand, in dem sich die Welt befindet, erweckt den Eindruck, als wäre die menschliche Zivilisation auf dem langen und mühevollen Wege ihrer Entwicklung in einer Sackgasse angelangt – es knirscht an allen Ecken und Kanten, die Welt bricht auseinander. Wobei es zu bedenken gilt, dass die Geschichte der menschlichen Zivilisation nun wahrlich noch nicht lange währt und erst 10 000 Jahre alt ist, als der Homo sapiens – damals noch Jäger und Sammler – die Tempel von Göbekli Tepe in der Südtürkei errichtete. Viel Zeit hatte er also nicht, um zu üben, zumindest erdgeschichtlich gesehen.
Und dennoch war es dem Homo sapiens gelungen, sich in derart kurzer Zeit zur dominierenden Art auf diesem Planeten aufzuschwingen. Gegenwärtig kommt keiner mehr am Menschen vorbei – sogar die Erde scheint vor ihm jetzt in die Knie zu gehen. Doch der Weg dorthin war bis in unsere Tage hinein wahrlich kein Zuckerschlecken: Lebte der Mensch doch schon immer im wirren Auf und Ab seiner Tage und Jahre, in der Krieg und Gemetzel eine zentrale Rolle spielten, ohne dass sich an den Grundbedingungen seines meist ärmlichen Lebens über die Jahrtausende etwas wesentlich geändert hätte.
Dann aber schien sich mit einem Mal ein historischer Quantensprung zu ereignen: Denn mit der sogenannten Industriellen Revolution und dem Beginn des kapitalistischen Wirtschaftssystems vor 250 Jahren, ging auf einmal ein ungeheurer Ruck durch die menschliche Zivilisation, der sie – wirtschaftlich gesehen – in ungeahnte Höhen katapultierte, wobei sie wie berauscht all das nachzuholen versuchte, wovon sie früher nur hatte träumen können: „Auch fast 300 000 Jahre nach dem Erscheinen des Homo sapiens lag das Pro-Kopf-Einkommen noch kaum über dem zum Überleben notwendigen Minimum, Seuchen und Hungersnöte waren an der Tagesordnung, ein Viertel der Neugeborenen erlebte nicht einmal seinen ersten Geburtstag. Frauen starben häufig bei der Entbindung, und die Lebenserwartung betrug selten mehr als 40 Jahre. Doch dann kam es in Westeuropa und in Nordamerika abrupt zu einer raschen und historisch beispielslosen Verbesserung des Lebensstandards in verschiedenen Gesellschaftsschichten, ein Vorgang, der später auch in anderen Weltregionen einsetzte. Erstaunliches geschah: In der Zeit seit der Wende zum 19. Jahrhundert … schnellte das Pro-Kopf-Einkommen weltweit um das 14-fache hoch, während sich die Lebenserwartung mehr als verdoppelte. Parallel dazu nahm allerdings auch die soziale Ungleichheit um ein Vielfaches zu.“ (1)
DER HOMO SAPIENS – EIN SPÄTENTWICKLER
Doch nicht nur im Hinblick auf seine Zivilisation ist der Homo sapiens ein wahrer Spätentwickler. Denn allein schon um heranzureifen und erwachsen zu werden, braucht er im Vergleich zu allen anderen Lebewesen eine schiere Ewigkeit: Amseln schaffen das beispielsweise in ein paar Wochen, während der Homo sapiens dafür mindestens eineinhalb Jahrzehnte benötigt. Zudem ist seine Art im Rahmen der Evolution des irdischen Lebens eine wirkliche Novität, weil er erst vor etwa 65 000 bis 75 000 Jahren die Savannen Ostafrikas verließ, um sich in der Folge mit seinen Eroberungszügen in kleinen Kohorten die Erde untertan zu machen – „out of Africa“, wie dieses Ereignis in der Evolutionsbiologie so treffend bezeichnet wird, und mit dem gleichnamigen Film von Sydney Pollack nicht das Geringste zu tun hat.
Zu dieser Zeit war das Erdklima wesentlich kühler als heute, und die Eiskappen an den Polen wesentlich dicker. Entsprechend niedrig war auch der Spiegel der Ozeane. Isolierte Inseln, die als Gipfel von Bergrücken heute aus den Ozeanen herausragen, waren damals durch Landbrücken verbunden, Meerengen seicht oder sogar trockengefallen. Ein paar tausend Jahre später erreichte der Homo sapiens erstaunlicherweise bereits die Insel Australiens, Europa hingegen erst vor 30 000 Jahren, wo er auf den dort bereits ansässigen Neandertaler traf.
Aber wie auch immer – gemessen am Alter der Erde von rund 4,5 Milliarden Jahren und der Entstehung des Lebens vor etwa 3,5 Milliarden Jahren ist der Mensch tatsächlich erst seit sehr kurzer Zeit auf der Erde unterwegs: Würde man diese Zeitverhältnisse auf einen 24-Stunden-Tag komprimieren, würde der Homo sapiens erst zwei Minuten vor Mitternacht die Szene betreten haben.
Doch nun, kaum dass dieser die Weltbühne betreten hat, droht dem Menschen auch schon wieder das Aus. Das wenigstens prophezeien ihm Evolutionsbiologen, Geophysiker und Klimatologen und behaupten, für den Homo sapiens stünde es kurz vor zwölf. Offenbar gehört auch dieser zu den gegenwärtig bedrohten Arten und hat es gar nicht mitbekommen. Denn das sechste Massensterben in der Geschichte der Erde hat längst begonnen, was sich offensichtlich ebenfalls kaum herumgesprochen hat. Doch schon im Mai 2019 veröffentlichte der Weltbiodiversitätsrat IPBES seinen Globalen Bericht, dem zufolge mindestens eine Million der gegenwärtig auf der Erde lebenden Arten innerhalb der nächsten Jahrzehnte akut bedroht sind.
Ungläubig steht der Mensch vor dem Scherbenhaufen seiner Geld- und Konsumgier und glaubt, nun die Quittung für seine unstillbaren Laster erhalten zu haben. Doch solch ein Irrglaube ist charakteristisch für ihn und Ausdruck seiner Schuldgefühle, die er – wie immer in solchen Fällen – nachgerade automatisch und aggressiv – auf andere, diesmal auf die Natur projiziert, als sei diese ihm ein Gegenüber auf Augenhöhe. Doch die Natur bekümmert ein derartiges Gebaren nicht, denn sie besteht aus nichts Anderem als auf abstrakten physikalischen und biochemischen Prozessen, die den ihnen innewohnenden Gesetzmäßigkeiten und Funktionen folgen und sich noch heute hinsichtlich ihrer Grundbedingungen dem Verständnis des modernen Menschen entziehen. Dieser aber schwärmte noch gestern vom „Wunder der Natur“ und vermeinte deren Phänomene mit seinen Kategorien und romantisierenden Bedeutungszuschreibungen erfassen zu können, als sei die Natur blanke Ästhetik und einfach nur „schön“ oder beeindruckend und wie geschaffen für einen Instagram-Shot.
Nun aber scheint der Mensch bitter von der Natur enttäuscht – sie hat ihn im Stich gelassen wie eine undankbare und hinterhältige Liebschaft. Sein Schock sitzt tief: Dabei ist es primär gar nicht die Natur, die den Menschen herausfordert und eines Tages möglicherweise zum Aufgeben zwingen wird. Nein, ganz im Gegenteil: Es ist der Mensch selbst, der sich seiner Lebensgrundlagen beraubt, indem er in die natürlichen geophysikalischen Prozesse des Erdsystems eingreift und deren Charakter und Verlauf zu seinem eigenen Schaden verändert. Ein erschreckender, ja für den Menschen wirklich fataler Befund, der sich über ihm als Krone der Schöpfung da auf einmal zusammenbraut. Kleinmütig blickt er zu Boden, der unter seinen ungläubigen Augen zusehends vertrocknet.
EIN FOLGENREICHES MISSVERSTÄNDNIS
Und Gott segnete sie und sprach zu ihnen: Seid fruchtbar und mehrt euch und füllt die Erde und macht sie euch untertan und herrscht über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über alles Getier, das auf Erden kriecht. (Erstes Buch Mose, Vers 1. 28)
Offenbar hatte der Mensch schon von Anfang an große Schwierigkeiten, sich auf die Natur einzulassen, die – wenn er denn ehrlich ist – ihm immer schon nicht ganz geheuer war und ihn im Grunde tief ängstigte. Als er aber von Gott hörte, er solle sich die Erde untertan machen, überfielen ihn offenbar ungeahnte Größengefühle, die ihm die Gewissheit schenkten, der Herrscher aller Reußen zu sein. Seine Angst war wie weggeblasen.
So wurde der Größenwahnsinnige (wieder einmal) das Opfer seiner eigenen Schwäche, alles nur auf sich zu beziehen und die Dinge lediglich aus seiner Perspektive zu betrachten. Dass er jedoch im göttlichen und nicht im menschlichen Sinne handeln solle, musste ihm folglich entgehen. Also machte er sich auf der Erde breit und schwang sich zum Herrscher über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über alles Getier, das auf Erden kriecht, auf. Jetzt schien ihm die Natur beherrschbar, er glaubte obsiegt zu haben.
Jetzt aber ist der Sieger über Nacht zu einem Verlierer geworden. Denn ohne es zu wollen, ist es ihm nun auch gelungen, in die Prozesse der Natur einzugreifen und diese zu verändern. Und dies nicht zu seinem Vorteil, wie er bemerken muss. Der Mensch sieht sich plötzlich an den Rand seiner Existenz gedrückt, als würde er zum zweiten Mal aus dem Paradies vertrieben. Doch diese Geschichte steht nicht in der Bibel – sie ist Realität! Folglich hängt jetzt alles allein vom Menschen ab. Wenn es ihm nicht gelingt, das Ruder noch rechtzeitig herumzureißen, Gnade ihm Gott. Doch der wird ihm nicht mehr helfen können, der ist schon lange tot.
Deshalb lautet die jetzt alles entscheidende Frage, ob es dem Menschen künftig gelingen wird, die Dinge wieder ins Lot zu bringen? Um dies beurteilen zu können, lohnt sich der Blick auf dessen gegenwärtigen Zustand – vor allem auf dessen emotionale und kognitive Verfasstheit. Er braucht Besonnenheit und einen kühlen Kopf, um sich den künftigen Herkulesaufgaben zu stellen. Schließlich muss er ja gewinnen, wenn er nicht untergehen will. Zuvor aber ein Blick auf seine Geschichte und sein Wesen.
DER MENSCH – DAS KOMPLEXESTE ALLER LEBEWESEN
Mit dem Homo sapiens hat die irdische Evolution das bislang komplexeste Lebewesen hervorgebracht. Und bemerkenswerterweise ist dieser der einzige Überlebende seiner weit verzweigten Art. Der Homo sapiens entstammt der Gattung der Homini, eine Tribus der Familie der Menschenaffen, mit den Australopithecinen als Vormenschen, dem Homo habilis als Urmenschen und dem Homo erectus als Frühmenschen, aus dem er, der Homo sapiens, vor etwa 300 000 Jahren in Ostafrika hervorging.
Schon dessen Vorfahren zeichnete ein aufrechter, zweibeiniger Gang aus, der diesen damit einen besseren Überblick über das umliegende Gelände ermöglichte und Gefahren rascher erkennen ließ. Zudem hatten sich deren Hände zu Greiforganen entwickelt, und deren Gehirne sich massiv vergrößert. Eine Konstellation, die spontan an Werkzeuge denken lässt – Werkzeuge wie Steinklingen oder Faustkeile, die sich diese schon vor rund 2,3 bis 2,6 Millionen Jahren erfanden, um das harte und extrem herausfordernde Leben besser meistern zu können. Außerdem hatte sich der Geburtskanal der Frauen wie zwangsläufig vergrößert, damit deren Nachkommen mit ihren vergrößerten Hirnen auch möglichst unbeschadet zur Welt kommen konnten – die Natur schien an alles zu denken.
Nun aber ist der Homo sapiens der letzte seiner Art, der die Erde bevölkert. Alle anderen seines Zweigs existieren längst nicht mehr. Ob dahinter dessen Kalkül steckt, bleibt im Dunklen. Eines aber scheint sicher: Den letzten seiner Konkurrenten, den Homo neanderthalensis, der neben ihm als einziger aus der Familie überlebt hatte, scheint er vor etwa 30.000 Jahren jedenfalls von der Erde verdrängt oder schlichtweg überwältigt und beseitigt zu haben. Nur ein einsamer Evolutionsbiologe, der den Homo sapiens offenbar exkulpieren möchte, bestreitet dies jedoch und behauptet, dieser hätte den Neandertaler einfach nur totgequatscht.
Doch schon zuvor hatte der Homo sapiens seine tödlichen Spuren auf der Erde hinterlassen, nachdem er vor ca. 50 000 Jahren Ostafrika verlassen und als Jäger und Sammler seinen Siegeszug rund um Globus angetreten hatte: Denn wohin er auch kam, streckte er praktisch alle Großtiere, die ihm in die Quere kamen, mit seinen Waffenwerkzeugen wie Pfeil und Bogen oder Speer nieder: Wo immer er neue Kontinente und Inseln besiedelte, kam es zu einem Massenaussterben von Tierarten. Besonders deutlich wurde dies in den Regionen Australiens, die sich 55 Millionen Jahre lang völlig eigenständig entwickelt hatten, und bald nach der Ankunft der ersten Menschen die größten Kängurus, nashornähnliche Riesenbeuteltiere und Beutellöwen verloren hatten – 23 der 24 großen Tierarten starben aus. Ähnlich verhielt es sich in Nordamerika, wo nach den Raubzügen des Homo sapiens praktisch alle Mammuts, Säbelzahntiger und Riesenfaultiere ausgerottet waren. Doch das Aussterben der Arten ging auch später weiter, wann immer der Mensch neues Land betrat: Auf den karibischen Inseln verschwanden die Antillenaffen und das Riesenfaultier; auf Neuseeland alle 15 Arten der flugunfähigen Moas; auf Madagaskar der Elefantenvogel und die Riesenlemuren. In dieser Art und Weise hatte es außer dem Menschen keine andere große Säugetierart geschafft, über Klimazonen und Meere hinweg die Erde zu besiedeln – derart sprach- und vernunftbegabt, in übersichtlichen Kleingruppen unterwegs und bestens organisiert. Gleichzeitig aber auch von extrem durchsetzungsfähigem und dominierendem Charakter, unberechenbar in seinem Verhalten und dabei zeitweise überaus heimtückisch und mörderisch.
Und das setzt sich offenbar bis heute immer weiter fort: Denn selbst jetzt, wo der Homo sapiens seinen vorzeitlichen Eroberungsfeldzug rund um den Globus längst hinter sich, und mittlerweile eine zweite, die technisch-ökonomische Globalisierung vollzogen hat, jagt er nicht mehr nur den Tieren als Nahrungsquelle nach, sondern verdrängt darüber hinaus alle diejenigen Arten, die ihm nicht von Nutzen scheinen, oder vernichtet diese kurzerhand mit seinen schonungslosen Umweltgiften. Deswegen liegt der Anteil an Pflanzen- und Tierarten, die gegenwärtig jährlich von der Erde verschwinden mehrere hundert Male höher, als es im Durchschnitt der letzten 10 Millionen Jahre der Fall war. Ein Prozess, der sich im Vergleich zu den vorhergehenden Massenaussterben zudem in einer rasanten Geschwindigkeit abspielt: Dem Livid Planet Index (LPI) zufolge gab es einen geschätzten Rückgang der weltweiten biologischen Vielfalt um 65 Prozent allein zwischen 1970 und 2010, also innerhalb von nur 40 Jahren – in geologischen Maßstäben ein wirklich verschwindend kurzer Zeitraum.
So scheint der Homo sapiens ein Irrläufer der Evolution, der darüber hinaus bemerkenswerter Weise auch noch dazu imstande ist, deren natürliche Prozesse geophysikalisch zu beeinflussen und umzulenken – wissentlich oder nicht wissentlich. Dabei droht er nicht nur selbst an seiner Überzahl von gegenwärtig 7,96 Milliarden Menschen zu ersticken, die im Jahre 2050 zu 9,7 und im Jahre 2100 zu 10,9 Milliarden angewachsen sein wird, sondern schickt sich währenddessen auch noch an, allem Leben um sich herum sukzessive den Garaus zu machen.
WIE ALLES LEBEN BEGANN
Wenn man bei alldem bedenkt, dass alles Leben vor ca. 3,5 Milliarden Jahren mit den sogenannten Blaualgen, den Prokaryoten begann – mit bakterienartigen Einzellern, die noch keinen Zellkern besaßen, dann kann man ermessen, welchen nachgerade unvorstellbaren Weg das Leben durch die Jahrmillionen seiner Entwicklung bis zum Menschen genommen hat: von den einfachsten Lebensformen hin zu immer komplexeren Strukturen. Und wenn man zudem auch noch weiß, dass diese Blaualgen eine entscheidende Rolle bei der Anreicherung der Erdatmosphäre mit Sauerstoff spielten, der zur damaligen Zeit im Vergleich zu heute nur in Spuren von 1% in der Atmosphäre vorkam, kommt man aus dem Staunen nicht mehr heraus. Schafften es diese Tierchen doch, aus dem rötlichen Erdplaneten im Verlauf von etwa 1,5 Milliarden Jahren einen blaugrünen werden zu lassen, da durch diese der Anteil des Sauerstoffs am Gesamtvolumen der Luft auf 21 % des Gesamtvolumens angestiegen war.
Das Überraschende, ja Wundersame an diesen blaugrünen Einzellern, die eigentlich Frühformen der heute noch existierenden Cyanobakterien waren, ist es also, dass diese als Einzeller nicht nur den Grundstein allen Lebens legten, sondern aufgrund ihres Stoffwechsels darüber hinaus auch noch für den notwendigen Sauerstoff in der Atmosphäre sorgten, den sie als Abfallprodukt freisetzten: Eine eklatante Koinzidenz, die typisch ist für natürliche Prozesse. Dieserart hat es den Anschein, als hätte das beginnende Leben das künftige bereits im Auge gehabt, und hätte alles dafür getan, diesem das mitzugeben, was es in Zukunft brauchen würde, um gedeihen, sich vermehren und ausbreiten zu können – Sauerstoff. Aus diesem Grund kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass diese Bakterien offenbar eine instinktive Intelligenz besaßen, und in irgendeiner Form von den basalen Funktionen des Lebens wussten. Darüber hinaus ist es wirklich frappierend, dass diese Winzlinge, die selbst von blaugrüner Farbe waren, der Erdatmosphäre ebenfalls ein blaugrünes Aussehen verliehen – so, als würden nun Mikro- und Makrokosmos verschmelzen.
Das Geheimnis der Cyanobakterien liegt in deren Fähigkeit zur Photosynthese begründet, die diese vor ca. 2,7 Milliarden Jahren entwickelten. Mit dieser neuen, stoffwechselbedingten Methode vermochten diese nun das Sonnenlicht als Energiequelle zu nutzen, weshalb sie auch als phototrop bezeichnet werden – also sich von Licht ernährend. Dabei nutzten sie die reichlich vorhandenen Ausgangsstoffe Wasser (H2O) und Kohlendioxid (CO2) und verarbeiteten diese Stoffe mithilfe des Lichts zu Energie und Glucose, wobei sie hierbei den freigewordenen Sauerstoff als Abfallprodukt abgaben.
Mit dieser Ernährungsweise stand dem Leben jetzt eine so potente Energiequelle zur Verfügung, dass sich die Produktivität der Biosphäre in der Folge um mehr als den Faktor 1 000 erhöhte. In diesem Zusammenhang gilt es zu bedenken, dass noch heute etwa die Hälfte des atmosphärischen Sauerstoffs von phototropen Bakterien erzeugt wird, die gegenwärtig immer noch mehr als die Hälfte der gesamten Biomasse auf der Erde ausmachen.
Die Photosynthese konnte damals als Sauerstoffquelle aber nur dann wirklich erfolgreich sein, wenn die Cyanobakterien beim Absterben durch den Sauerstoff, den sie freigesetzt hatten, nicht wieder hätten rückoxidiert werden können: Ansonsten wäre dieselbe Menge Sauerstoff der Umgebung wieder entzogen worden, die diese zu Lebzeiten produziert hatten. Dass dies aber nicht der Fall war, lag im Prozess der Sedimentation begründet: So sanken die toten Bakterien auf den Meeresboden nieder und lagerten sich dort in immer höheren Schichten ab, an die der freie Sauerstoff nicht mehr gelangen konnte.
GIBT ES EIN REGULATIVES PRINZIP IM LEBEN?
Wenn man all diese Prozesse, die das beginnende Leben charakterisieren, auf sich wirken lässt, kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, sie seien all diese Bewegungsmuster in ihrer Funktion perfekt aufeinander abgestimmt und nachgerade vernünftig koordiniert. So, als bildeten diese in ihrer Gesamtheit eine funktionale und organische Einheit, der ein wie immer auch geartetes regulatives Prinzip zugrunde läge. Wobei es in diesem Zusammenhang nachgerade eklatant erscheint, dass das beginnende Leben das künftige Leben bereits im Auge zu haben schien, und alles dafür tat, diesem nicht nur den nötigen Raum, sondern vor allem auch die entsprechenden Bedingungen dafür zu verschaffen, künftig gedeihen, sich vermehren und ausbreiten zu können.
In diesem Sinne sorgte die Photosynthese für genügend Sauerstoff in der Atmosphäre, woraufhin sich in deren höheren Schichten vor ca. 700 Millionen Jahren konsekutiv die Ozonschicht bildete. Jetzt konnte sich auch das Leben nicht nur in den Meeren, sondern auch an Land entfalten, weil es nun besser vor der schädlichen ultravioletten Strahlung, der die Erde beständig ausgesetzt ist, geschützt war. Und bereits ungefähr 350 Millionen Jahren später lag der Sauerstoffgehalt in der Atmosphäre schließlich auf dem heutigen Niveau, da sich ein homöostatisches Gleichgewicht zwischen der Sauerstoffproduktion durch Photosynthese und dem Sauerstoffverbrauch durch Atmung gebildet hatte. Ein dynamisches Gleichgewicht, das eine essenzielle Grundbedingung für den Erhalt allen Lebens ist.
Doch solche überaus einfachen, dennoch aber auch irgendwie rätselhaften Prozessen auf den Grund zu kommen, scheint dem Menschen verwehrt – er weiß zwar viel, aber er begreift nicht. Denn der Fluch, sich immer nur in den Dingen zu spiegeln, statt sich in diese zu versenken und sich ihrer Eigenart und Bewegung hinzugeben, scheint ihn daran zu hindern. Denn dies ist die Voraussetzung aller Erkenntnis. Stattdessen aber scheint der Mensch aufgrund seiner Kognition dazu gezwungen, in allem und jedem immer nur Sinn und Bedeutung erkennen zu wollen – seinen Sinn und seine Bedeutung wohlbemerkt, da er, wie schon angemerkt, die Welt ausschließlich aus seiner Perspektive betrachtet. Er ist das Subjekt, das sich im Zentrum der Dinge wähnt, alles andere um ihn herum ist und bleibt Objekt – nichts als ein Gegenüber, das ihm zur Disposition stehen soll. Deshalb braucht der Mensch ein Narrativ, sonst ist er verloren und haltlos. Es hilft ihm übers Nichtverstehen hinweg.
Wohin diese abgründige Wahrnehmungsschwäche den Menschen führt, zeigt sich bereits am Beispiel seiner biblischen Schöpfungsgeschichte, die er sich angesichts der Erde und allen Lebens vor mehr als zweitausend Jahren zusammenfabuliert hat. Behauptet dieser doch dort (Genesis 1,1–2,3 (4a)), der Prozess des Lebens habe nur einen einzigen Sinn gehabt, den nämlich, den Menschen hervorzubringen – ihn, die Krone der Schöpfung.
Demgemäß hätte Gott an sechs Tagen die Welt erschaffen: zunächst das Licht und Firmament, dann das Land und Meer, die Pflanzen und Himmelskörper, und dann die Tiere des Wassers, des Landes und die der Luft, nur um dann schließlich den Menschen zu erschaffen. In diesem Sinne verstieg sich der Mensch schon gleichsam von Anfang an in seine hybriden Narrative, um angesichts der Ewigkeit, die ihn umgibt, nicht aufgeben und die Orientierung verlieren zu müssen, weil er im Sinnlosen nach Sinn sucht.
Doch das Leben folgt keinem zielgerichteten Plan. Es trägt keine Absicht in sich. Es folgt vielmehr seiner Potentialität, die in ihm angelegt ist. Für das menschliche Wesen bedeutet dies nicht anderes, als „dass die wesentlichen Ursachen seiner Variation inhärente Differenzen des Keimes sind, die das Individuum in sich trägt, und nicht die Wege, die dieses Individuum im Laufe seines Werdegangs beschreitet.“ (2)
Doch wie immer es auch sei – der Mensch scheint für die Wahrheit der Natur nicht gemacht. Denn nun ist ihm diese auch noch zum Feindbild geworden – die katastrophale Natur ist ihm jetzt zum neuen Narrativ geworden. Ein nächster, noch folgenschwerer Irrtum, der ihn glauben lässt, die Natur nun mit Waffen bekämpfen zu müssen, um sie im Zaum zu halten. Geoengineering heißt das neue Zauberwort, das im Grunde nichts anderes besagt, als die geophysikalischen und biogeochemischen Kreisläufe der Erde vorsätzlich mit großräumigen technischen Eingriffen in die Knie zu zwingen.
Wenn dies jedoch misslingen sollte, bleibt dem Menschen nur mehr die Flucht ins All. Eine Ersatzerde wird schon verzweifelt gesucht. Doch das wird natürlich nur den Reichen gelingen. Die Anderen werden auf der Strecke bleiben. Denn spätestens in einer Milliarde Jahren wird es mit dem Leben auf der Erde zu Ende gehen: Denn dann wird die Erdatmosphäre ihren Sauerstoff schon wieder verloren haben. Der Grund hierfür ist so einfach wie bestürzend: Denn auch die Sonne altert, wobei sie immer heißer wird. Das Licht, das sie dem Leben einst schenkte, wird es dann vernichten.
Der Kreis hat sich geschlossen. Denkt man diesen aber in der Bewegung der Zeit, wird eine Spirale daraus – die Bewegung des Ewigen.
(1) Oded Galor: The Journey of Humanity. dtv, München, 2022. pp. 62/63
(2) Henri Bergson: Schöpferische Evolution. Felix Meiner Verlag, Hamburg, 2013.p.104