Peter Mussbach
DIE ZAUBERFLÖTE
Eine Erzählung in 10 Kapiteln
Peter Mussbach

DIE ZAUBERFLÖTE

Eine Erzählung in 10 Kapiteln

1

Während Tamara mit ihrer Busenfreundin Susanne, mit der es immer etwas zu bereden gibt, am Telefon hängt, blickt sie beiläufig auf die Uhr und wird auf einmal ganz hibbelig: „Mein Gott, jetzt muss ich aber los, Susanne, ich bin wirklich spät dran. Aber wir sehen uns ja morgen, meine Liebe. Leider bin ich wieder nicht richtig zum Üben gekommen. Aber irgendwie werden wir das mit dem vierhändigen Schubert schon hinkriegen. Was …? Nein, ich muss in die Oper, das habe ich dir doch gestern schon erzählt. Jaja, die Zauberflöte. Das Stück lässt mich einfach nicht los. Also bis morgen!“

Tamara legt hastig auf und eilt vom weitläufigen Wohnraum in die Vorhalle ihrer luxuriösen Landvilla hinüber, wo sie sich voller Vorfreude vor dem mannshohen Garderobenspiegel aufpflanzt, sich ihren Nerzmantel schnappt und behände in ihn hineinschlüpft – sich kritisch im Spiegel beäugend. Irritiert hält sie inne: Mein Gott, sie sieht müde aus, etwas mehr Make-Up hätte geholfen. Aber dazu fehlt jetzt wirklich die Zeit. Reflexartig setzt sie ihr verführerisches Lächeln auf, das ihr in der Eile zwar etwas verrutscht, aber dennoch immer noch betörend wirkt, wie sie sich einredet. Wer nicht weiß, wie alt sie ist, wird ihr ihre Sechsundsechzig nicht ansehen. Aber was tut sie nicht alles, um immer möglichst jugendlich und spritzig rüberzukommen – vor allem bei Männern.

Mit Verve wendet sich Tamara vom Spiegel ab und hastet zur schweren, ganz aus orientalischem Holz gezimmerten Haustüre, die sie schwungvoll öffnet und ins Freie hinaustritt, als sie urplötzlich stockt. Verdammt, wo ist der Hausschlüssel, den hatte sie doch gerade noch in der Hand? Ein Glück, dass sie das im allerletzten Moment noch bemerkt – um ein Haar hätte sie sich ausgesperrt. Und das wäre wahrlich fatal gewesen, schließlich ist sie allein im Haus. Denn Rainer, ihr Ehemann und ein vielbeschäftigter und durchaus erfolgreicher Architekt, befindet sich wegen eines größeren Bauprojekts gegenwärtig in Australien. Er wird erst in zwei Wochen wieder zurück sein.

„Tamara! Hast du etwa deinen Hausschlüssel vergessen? Beeil dich, du bist wirklich spät dran“

Tamara schrickt zusammen. Hat sie da gerade eine Stimme gehört – drüben aus dem Wohnraum? Fassungslos steht sie da und lauscht angespannt in die Stille hinein. Aber nichts regt sich. Zögerlich nimmt sie sich schließlich ein Herz und geht durchs Entree zurück in die Wohnhalle. Dabei kommt ihr jedoch kein Sterbenswörtchen über die Lippen: Von wegen Hallo, ist da jemand? So etwas Dummes sagt doch nur irgendeine Tussi in einem B-Horrorfilm, kurz bevor sie um die Ecke gebracht wird – Tamara wird sich doch nicht lächerlich machen.

Argwöhnisch blickt sie sich um. Aber in der Wohnhalle, die mit ihren hohen Fenstern einen atemberaubenden Blick in die großzügige Parkanlage hinaus gewährt, ist nichts Besonderes zu bemerken. Doch, Tamara hält konsterniert inne, der Park da draußen kommt ihr mit einem Mal völlig verändert vor – so befremdlich, wie sie ihn noch nie gesehen hat. Im Zwielicht der Abenddämmerung wirkt er auf einmal erschreckend düster und unheimlich auf sie – wie ein verwunschener Ort. Die kahlen Äste und Zweige der hohen alten Bäume zaubern ein bizarres Spinnennetz in den tiefblauen Himmel – wie geschaffen für den Auftritt der Königin der Nacht. Tamara würde sich nicht wundern, diese da gleich irgendwo zu sehen – im Düsteren dort hinten zwischen den Rhododendronbüschen zum Beispiel.

„Hier Tamara, dein Schlüssel. Du musst jetzt endlich los, sonst verpasst du noch die Zauberflöte!“

Zu Tode erschrocken reißt es Tamara herum. Und als sie mit einem Mal vor der weit geöffneten Haustüre die Königin der Nacht in ihrem tiefblauen, bodenlangen Kleid in der Vorhalle stehen sieht, die ihr ungeduldig den Schlüsselbund entgegenhält, glaubt sie, die Sinne zu verlieren und schaut schwankend zu Boden.

„Was ist, Tamara? Ist dir nicht wohl?“

„Doch, doch“, flüstert Tamara starr vor Angst und wagt nicht aufzublicken.
„Na dann mal los. Es ist an der Zeit.“, hört sie die Königin. Doch als Tamara endlich wieder zur Erscheinung hinüberblickt, ist diese mit einem Mal verschwunden. Der Schlüsselbund steckt jetzt im Schloss, allerdings baumelt er noch ein wenig.

Völlig verwirrt reibt sich Tamara die Augen. Hat sie da gerade etwa Gespenster gesehen? Wie seltsam, dass gerade ihr so etwas widerfährt? Sie ist doch gar nicht der Typ dafür. Und jetzt? Was soll sie machen? Die Lust auf Oper ist ihr mittlerweile gründlich vergangen, doch im Augenblick hat sie nicht den Mumm, allein hier im Haus zu bleiben. Da bietet ihr die Oper doch die willkommene Möglichkeit, wieder auf andere Gedanken zu kommen. Den irrsinnigen Auftritt da gerade muss sie erst einmal verdauen.

Völlig verunsichert geht Tamara vom Wohnraum zurück durchs Entree auf die offenstehende Haustüre zu, während finstere Gedanken in ihr aufsteigen: Schlägt jetzt etwa das Schicksal zu und nimmt Rache an ihr? Tamara zögert – einen Augenblick lang sieht sie sich auf ihrer Liege am Swimmingpool daliegen, während sie aus dem Radio die Auftrittsarie der Königin der Nacht hört – Der Mutter Rache kocht in meinem Herzen. Will die Theaterfigur jetzt etwa Vergeltung an ihr üben, für das, was sie tat, als sie deren Arie lauschte? Eine imaginäre Gestalt und nichts anderes als ein Hirngespinst? Völlig konfus lässt Tamara die Haustüre ins Schloss fallen und schließt hektisch ab. Zweimal, ganz gegen ihre Gewohnheit – so, als wolle sie deren Erscheinung für immer darin einschließen.

„Jetzt aber in die Oper …!“, ruft Tamara so laut, dass man es selbst im Haus noch hören kann, und stolpert mit ihren Stöckelschuhen über den weißen Kies des Vorplatzes zu ihrem Sportcoupé hinüber. Mit einem prüfenden, scheinbar beiläufigen Blick über die Hausfassade hinweg zieht sie energisch die Wagentüre auf und lässt sich in die Polster ihres BMWs zurückfallen, schmeißt wummernd den Motor an und fährt los: Mehr denn sportlich über den staubenden Kies des von Buchsbäumen gesäumten Rondells hinweg zur Ausfahrt ihres Anwesens hinunter, wo sie schließlich mit Karacho und quietschenden Reifen wie in einem Hitchcock-Film in die Landstraße Richtung Stadt einbiegt – so, als wäre jemand hinter ihr her.

2

Mittlerweile ist es dunkel geworden und widerlicher Schneeregen hat eingesetzt. Tamara geht fluchend vom Gas, stellt fahrig die Scheibenwischer an und schüttelt verwundert den Kopf – im Wetterbericht war keine Rede davon. Ob sie es zur Zauberflöte noch rechtzeitig schaffen wird? Mein Gott, es wäre eine Katastrophe, wenn sie nicht mit von der Partie sein könnte. Entnervt legt sie Tempo vor, schließlich hat sie noch eine gehörige Strecke vor sich.

Normalerweise hat Tamara mit der Distanz zur Stadt kein Problem. Ganz im Gegenteil, sie liebt es, hier draußen auf dem Lande zu leben. Da kann sie sich mit aller Hingabe um ihren Body kümmern – Pilates, Mountainbike, Tennis, Rückenschwimmen im See, und Skifahren im Winter auf den nahegelegenen Bergen halten sie bestens in Form. Das Reiten hat sie sich allerdings längst abgewöhnt, das macht auf Dauer einen dicken Po. Aber sei’s drum, hier draußen in der Natur hat sie genügend Möglichkeiten, um sich glänzend auf die Nächte in der Stadt vorzubereiten.

Selbstverständlich haben sie und ihr Ehemann Rainer auch eine Altbauwohnung in der Stadt. Im Zentrum, unweit des Opernhauses. Von dort aus könnte sie jetzt zu Fuß zur Oper gehen. Tamara stockt: Warum nur war sie eigentlich nicht schon heute Mittag losgefahren, wie sie es im Grunde doch vorgehabt hatte? Ach richtig, sie war auf der Couch in der Wohnhalle eingeschlafen und hatte eigenartig geträumt. Aber was es genau war, hat sie vergessen. Tamara erinnert sich nie an ihre Träume.

Binnen weniger Minuten hat sich der Schneeregen in heftiges Schneetreiben verwandelt – die Sicht wird immer schlechter, und die ohnehin relativ kurvenreiche Landstraße auf einmal gefährlich rutschig. Soll sie aufgeben und zurückfahren? „Nein, keinesfalls!“, murmelt Tamara trotzig vor sich hin: Schließlich ging es heute Abend nicht um irgendeine x-beliebige Repertoirevorstellung, sondern um nichts Geringeres als die Wiedereröffnung der Oper. War diese doch zwei geschlagene Jahre lang geschlossen gewesen, und durfte nicht mehr spielen, obwohl sie unbedingt wollte. Doch COVID-19 und eine ignorante Politik hatten ihr den Atem genommen.

Aber jetzt, nach einer Ewigkeit, war die Oper endlich wieder ins Leben zurückgekehrt und feierte heute Abend mit der Zauberflöte ihre festliche Wiedergeburt. An diesem atemberaubenden Event durften selbstverständlich nur Geimpfte teilhaben. Und das war sie dank ihrer guten Beziehungen schon längst.

Mein Gott, wie Tamara der Zauberflöte entgegenfiebert, sie kann es kaum erwarten, endlich wieder Theaterluft zu schnuppern. Zu diesem besonderen Anlass hat sie auch die zwei brandneuen FFP2-Masken in ihrer Handtasche mit dabei, die ihr von der Intendanz der Oper als großzügiges Geschenk zugeschickt worden waren: Für den ersten Akt eine in tiefblau und mit wundervollen Sternchen drauf: Tamara hatte sofort an Schinkel denken müssen und die Königin der Nacht. Und für den zweiten gab es eine in strahlendem Sonnengelb – wie das Licht am Ende des Tunnels, so wie die Zauberflöte ja nun mal auch endete.

Angesichts der Opernwüste um sie herum, hatte Tamara auch die viele Hausmusik, auf die sie in den letzten zwei Jahren zwangsläufig reduziert worden war, nicht viel weitergeholfen. Hausmusik war schlichtweg kein Ersatz für großes Theater ! Immer nur am Klavier, meistens mit Susanne vierhändig spielend, war ihr auf Dauer einfach zu öde. Außerdem mag Rainer ihr Klavierspiel nicht sonderlich. Wenn er sie im Nebenzimmer spielen hört, stolpert er manchmal entnervt in den Raum hinein und bittet sie flehentlich, mit der Stümperei aufzuhören. Du spielst wie eine klappernde Eismaschine in Zeitlupe, hatte er sie erst neulich wieder angeblafft. Aber in dieser Hinsicht darf sie Rainer nicht allzu ernst nehmen. Schließlich ist er von Grund auf unmusikalisch. Und dafür kann er nichts, denn dies ist angeboren, das muss sie einfach akzeptieren.

Andererseits zeigt sich Rainer ihr gegenüber aber auch immer wieder überraschend großzügig, ja generös. So als es zum Beispiel mit ihnen beiden im Bett nicht mehr so recht funktionieren wollte, und dieser ihr auf einmal ohne lange Umschweife höchst willkommene Freiräume gewährte. Schließlich wollte er sie partout nicht verlieren. Folglich musste sie ihren Seitensprüngen künftig auch mehr heimlich nachgehen – das entspannte die Beziehung zu ihrem Ehemann ungemein. Und mit den Hormonen, die sie nun schon seit Jahren einnimmt, kann es für diesen auch nicht weiter verwunderlich sein, wenn sie sich selbst mit ihren 66 Jahren diese Freiräume auch weiterhin nehmen muss.

Mittlerweile spielt das Wetter derart verrückt, als wolle es Tamaras Zauberflötenpläne durchkreuzen. Denn im Handumdrehen hat sich der anfänglich eher harmlos anmutende Schneeregen in einen orkanartigen Schneesturm verwandelt – Tamara kann kaum mehr die Straße sehen und kommt nur noch im Schneckentempo voran. Vor ihr scheint auf einmal kein Auto mehr unterwegs. Aber ohne Rücklichter vor sich, tut sie sich furchtbar schwer, bei all dem Schneegestöber die Orientierung zu behalten. Seltsam aber, dass auch hinter ihr niemand mehr fährt, wie sie im Rückspiegel bemerkt.

Tamara ergreift ein tiefes Einsamkeitsgefühl. Und die Welt scheint mit einem Mal stillzustehen, obwohl sie mit immerhin 35 km/h dahinfährt. Das liegt wohl an den dichten Schneeflocken, die zu Myriaden aus dem Nachtschwarzen auf die wie eine Filmleinwand wirkende Windschutzscheibe zu wirbeln, und – von den Scheinwerfern ihres Wagens urplötzlich in hypnotisch-irisierendes Licht getaucht – einen derartig abstrakten Glitzertanz vor ihren Augen veranstalten, dass sie, wie in eine Art Trance versetzt, vermeint, alles um sie herum sei mit einem Mal zur Ruhe gekommen und würde sich im Ungefähren auflösen.

Tamara dreht durch: Wenn das so weitergeht, kann sie den ersten Akt der Zauberflöte vergessen. Hektisch blickt sie auf die Uhr, womöglich hat die Vorstellung ja schon begonnen? Entgeistert klopft sie sich auf die Stirn – mein Gott, die wird doch heute Abend live im Radio übertragen, das hätte sie fast vergessen: Hibbelig beugt sich Tamara zur Stereoanlage vor und stellt das Radio an: Mit Aplomb setzt die Ouvertüre zur Zauberflöte ein, so als hätte man extra auf sie gewartet: Einen Moment lang sieht sich Tamara auf ihrem Platz in der Vorstellung der Zauberflöte dasitzen und hingebungsvoll der Musik lauschen. Und gleichzeitig auch hier in ihrem Sportcoupé am Radio – das Doppelbild verstört sie.

Mein Gott, was hatte Tamara die Oper vermisst. Sie ist einfach süchtig nach dem seelischen Glamour, den sie verbreitet. Ein Glamour, der ihr Leben so wunderbar zum Prickeln bringt, und den sie sich als Statussymbol auch nicht nehmen lassen will. Ein Leben ohne Musik ist ein Irrtum, zitiert sie Nietzsche, und hat keinen blassen Dunst davon, was sie da gerade daherredet – Hauptsache, es prickelt. Und das soll es bitte auch bei den Männern. Am liebsten sind Tamara richtige Naturburschen, die auch dementsprechend rangehen, seien diese nun Skilehrer, Bauhandwerker oder Free-Climbing-Sportler. Ihre Freundin Susanne hingegen steht sonderbarerweise nur auf junges Gemüse. Aber was soll’s? Chaque animal a son petit plaisir.

Welch absurde Situation, sich so durchs Schneetreiben dahinkämpfen zu müssen und dabei auch noch die Zauberflöte zu hören, die sie eigentlich in der Oper sehen wollte – das Doppelbild lässt Tamara einfach nicht los. Mit einem Mal fühlt sie sich wie zweigeteilt. So, als würde sie die Dinge nicht mehr so richtig zusammenbekommen: Gespenster und ein Schneesturm, der nicht angesagt ist – das ist einfach einen Zacken zu viel für sie. Und wahrscheinlich auch für jeden anderen, dem derartig Absurdes widerfährt.

Tamara bangt, Schweiß steht ihr auf der Stirn: Zur Pause wird sie es doch wohl hoffentlich noch schaffen. Diese ist heute nämlich besonders lang. Die strikten Kontakteinschränkungen machen dies ja erforderlich. Denn da jeder der frisch geimpften Opernfans, der in der Pause auch in den Genuss von Champagner kommen soll, aufgrund der rigiden Verhaltensregeln nur mit anderthalb Metern Abstand zum Nächsten mit seinem Mundschutz am Büfett Schlange stehen darf, dauert es eben seine Zeit, bis jeder derselben auch endlich seinen Champagner hat. Schließlich sind die Opernfanatiker von heute doch schon in weit fortgeschrittenem Alter und kommen dementsprechend nur mehr sehr langsam voran. Aufgeregt knipst Tamara das Innenlicht ihres Wagens an und wirft sich einen prüfenden Blick im Rückspiegel zu: Perfekt! Mein Gott, was werden die Leute im Foyer staunen, wie jung und knackig sie geblieben ist in all der furchtbaren Zeit.

Dass die Oper so lange geschlossen war, hatte Tamara schwer erzürnt. Da war ihr die Online-Petition KÄMPFT FÜR EURE OPER gerade zupassgekommen. Dass dieser Aufruf aber nicht aus dem Publikum, wie sie eigentlich erwartet hatte, sondern aus der Intendanz der Oper kam, die sich offenbar dazu angehalten sah, die Öffentlichkeit auf ihre gesellschaftliche Relevanz hinzuweisen, hatte sie mehr als irritiert. Deshalb hatte sie auch alles versucht, ihre Opernfreunde dazu zu bewegen, mit ihr für die Oper auf die Straße zu gehen. Aber keiner von denen hatte den Mumm dazu. Das hatte sie, ehrlich gesagt, am allertiefsten getroffen. Sie bereute es, sich vorsichtshalber schon einmal nach einer Cateringfirma umgesehen zu haben, die sie und ihre Mitkämpfer während des Demonstrationszugs mit leckeren Häppchen verwöhnen würde. Und mitten im Winter natürlich auch mit Glühwein, zum tapferen Durchhalten während der Aktion. Musik aber würde es dabei keinesfalls geben dürfen, schließlich ging es ja nicht um einen Aufzug zum Oktoberfest, sondern vielmehr darum, die Wunderwelt der Oper, die schließlich eine lange Tradition hatte, mutig vor dem Aussterben zu retten.

So waren auch schon Tamaras Großeltern und Eltern in der Nachkriegszeit nach Bayreuth oder Salzburg gepilgert. Das hatte in ihrer Familie einfach Tradition. Mein Gott, was waren das für Zeiten gewesen. Heute aber kam es Tamara manchmal so vor, als stünde sie mit ihrem Faible für die Oper ganz allein auf weiter Flur und gehöre einer schnöden Minderheit an, die sich dafür auch noch verteidigen müsse. Mein Gott, was würde sie dafür geben, in der Belle Époque gelebt zu haben – da waren Welt und Oper noch eins.

Eine Erzählung in 10 Kapiteln
Kapitel 1 und 2

1

Während Tamara mit ihrer Busenfreundin Susanne, mit der es immer etwas zu bereden gibt, am Telefon hängt, blickt sie beiläufig auf die Uhr und wird auf einmal ganz hibbelig: „Mein Gott, jetzt muss ich aber los, Susanne, ich bin wirklich spät dran. Aber wir sehen uns ja morgen, meine Liebe. Leider bin ich wieder nicht richtig zum Üben gekommen. Aber irgendwie werden wir das mit dem vierhändigen Schubert schon hinkriegen. Was …? Nein, ich muss in die Oper, das habe ich dir doch gestern schon erzählt. Jaja, die Zauberflöte. Das Stück lässt mich einfach nicht los. Also bis morgen!“

Tamara legt hastig auf und eilt vom weitläufigen Wohnraum in die Vorhalle ihrer luxuriösen Landvilla hinüber, wo sie sich voller Vorfreude vor dem mannshohen Garderobenspiegel aufpflanzt, sich ihren Nerzmantel schnappt und behände in ihn hineinschlüpft – sich kritisch im Spiegel beäugend. Irritiert hält sie inne: Mein Gott, sie sieht müde aus, etwas mehr Make-Up hätte geholfen. Aber dazu fehlt jetzt wirklich die Zeit. Reflexartig setzt sie ihr verführerisches Lächeln auf, das ihr in der Eile zwar etwas verrutscht, aber dennoch immer noch betörend wirkt, wie sie sich einredet. Wer nicht weiß, wie alt sie ist, wird ihr ihre Sechsundsechzig nicht ansehen. Aber was tut sie nicht alles, um immer möglichst jugendlich und spritzig rüberzukommen – vor allem bei Männern.

Mit Verve wendet sich Tamara vom Spiegel ab und hastet zur schweren, ganz aus orientalischem Holz gezimmerten Haustüre, die sie schwungvoll öffnet und ins Freie hinaustritt, als sie urplötzlich stockt. Verdammt, wo ist der Hausschlüssel, den hatte sie doch gerade noch in der Hand? Ein Glück, dass sie das im allerletzten Moment noch bemerkt – um ein Haar hätte sie sich ausgesperrt. Und das wäre wahrlich fatal gewesen, schließlich ist sie allein im Haus. Denn Rainer, ihr Ehemann und ein vielbeschäftigter und durchaus erfolgreicher Architekt, befindet sich wegen eines größeren Bauprojekts gegenwärtig in Australien. Er wird erst in zwei Wochen wieder zurück sein.

„Tamara! Hast du etwa deinen Hausschlüssel vergessen? Beeil dich, du bist wirklich spät dran“

Tamara schrickt zusammen. Hat sie da gerade eine Stimme gehört – drüben aus dem Wohnraum? Fassungslos steht sie da und lauscht angespannt in die Stille hinein. Aber nichts regt sich. Zögerlich nimmt sie sich schließlich ein Herz und geht durchs Entree zurück in die Wohnhalle. Dabei kommt ihr jedoch kein Sterbenswörtchen über die Lippen: Von wegen Hallo, ist da jemand? So etwas Dummes sagt doch nur irgendeine Tussi in einem B-Horrorfilm, kurz bevor sie um die Ecke gebracht wird – Tamara wird sich doch nicht lächerlich machen.

Argwöhnisch blickt sie sich um. Aber in der Wohnhalle, die mit ihren hohen Fenstern einen atemberaubenden Blick in die großzügige Parkanlage hinaus gewährt, ist nichts Besonderes zu bemerken. Doch, Tamara hält konsterniert inne, der Park da draußen kommt ihr mit einem Mal völlig verändert vor – so befremdlich, wie sie ihn noch nie gesehen hat. Im Zwielicht der Abenddämmerung wirkt er auf einmal erschreckend düster und unheimlich auf sie – wie ein verwunschener Ort. Die kahlen Äste und Zweige der hohen alten Bäume zaubern ein bizarres Spinnennetz in den tiefblauen Himmel – wie geschaffen für den Auftritt der Königin der Nacht. Tamara würde sich nicht wundern, diese da gleich irgendwo zu sehen – im Düsteren dort hinten zwischen den Rhododendronbüschen zum Beispiel.

„Hier Tamara, dein Schlüssel. Du musst jetzt endlich los, sonst verpasst du noch die Zauberflöte!“

Zu Tode erschrocken reißt es Tamara herum. Und als sie mit einem Mal vor der weit geöffneten Haustüre die Königin der Nacht in ihrem tiefblauen, bodenlangen Kleid in der Vorhalle stehen sieht, die ihr ungeduldig den Schlüsselbund entgegenhält, glaubt sie, die Sinne zu verlieren und schaut schwankend zu Boden.

„Was ist, Tamara? Ist dir nicht wohl?“

„Doch, doch“, flüstert Tamara starr vor Angst und wagt nicht aufzublicken.
„Na dann mal los. Es ist an der Zeit.“, hört sie die Königin. Doch als Tamara endlich wieder zur Erscheinung hinüberblickt, ist diese mit einem Mal verschwunden. Der Schlüsselbund steckt jetzt im Schloss, allerdings baumelt er noch ein wenig.

Völlig verwirrt reibt sich Tamara die Augen. Hat sie da gerade etwa Gespenster gesehen? Wie seltsam, dass gerade ihr so etwas widerfährt? Sie ist doch gar nicht der Typ dafür. Und jetzt? Was soll sie machen? Die Lust auf Oper ist ihr mittlerweile gründlich vergangen, doch im Augenblick hat sie nicht den Mumm, allein hier im Haus zu bleiben. Da bietet ihr die Oper doch die willkommene Möglichkeit, wieder auf andere Gedanken zu kommen. Den irrsinnigen Auftritt da gerade muss sie erst einmal verdauen.

Völlig verunsichert geht Tamara vom Wohnraum zurück durchs Entree auf die offenstehende Haustüre zu, während finstere Gedanken in ihr aufsteigen: Schlägt jetzt etwa das Schicksal zu und nimmt Rache an ihr? Tamara zögert – einen Augenblick lang sieht sie sich auf ihrer Liege am Swimmingpool daliegen, während sie aus dem Radio die Auftrittsarie der Königin der Nacht hört – Der Mutter Rache kocht in meinem Herzen. Will die Theaterfigur jetzt etwa Vergeltung an ihr üben, für das, was sie tat, als sie deren Arie lauschte? Eine imaginäre Gestalt und nichts anderes als ein Hirngespinst? Völlig konfus lässt Tamara die Haustüre ins Schloss fallen und schließt hektisch ab. Zweimal, ganz gegen ihre Gewohnheit – so, als wolle sie deren Erscheinung für immer darin einschließen.

„Jetzt aber in die Oper …!“, ruft Tamara so laut, dass man es selbst im Haus noch hören kann, und stolpert mit ihren Stöckelschuhen über den weißen Kies des Vorplatzes zu ihrem Sportcoupé hinüber. Mit einem prüfenden, scheinbar beiläufigen Blick über die Hausfassade hinweg zieht sie energisch die Wagentüre auf und lässt sich in die Polster ihres BMWs zurückfallen, schmeißt wummernd den Motor an und fährt los: Mehr denn sportlich über den staubenden Kies des von Buchsbäumen gesäumten Rondells hinweg zur Ausfahrt ihres Anwesens hinunter, wo sie schließlich mit Karacho und quietschenden Reifen wie in einem Hitchcock-Film in die Landstraße Richtung Stadt einbiegt – so, als wäre jemand hinter ihr her.

2

Mittlerweile ist es dunkel geworden und widerlicher Schneeregen hat eingesetzt. Tamara geht fluchend vom Gas, stellt fahrig die Scheibenwischer an und schüttelt verwundert den Kopf – im Wetterbericht war keine Rede davon. Ob sie es zur Zauberflöte noch rechtzeitig schaffen wird? Mein Gott, es wäre eine Katastrophe, wenn sie nicht mit von der Partie sein könnte. Entnervt legt sie Tempo vor, schließlich hat sie noch eine gehörige Strecke vor sich.

Normalerweise hat Tamara mit der Distanz zur Stadt kein Problem. Ganz im Gegenteil, sie liebt es, hier draußen auf dem Lande zu leben. Da kann sie sich mit aller Hingabe um ihren Body kümmern – Pilates, Mountainbike, Tennis, Rückenschwimmen im See, und Skifahren im Winter auf den nahegelegenen Bergen halten sie bestens in Form. Das Reiten hat sie sich allerdings längst abgewöhnt, das macht auf Dauer einen dicken Po. Aber sei’s drum, hier draußen in der Natur hat sie genügend Möglichkeiten, um sich glänzend auf die Nächte in der Stadt vorzubereiten.

Selbstverständlich haben sie und ihr Ehemann Rainer auch eine Altbauwohnung in der Stadt. Im Zentrum, unweit des Opernhauses. Von dort aus könnte sie jetzt zu Fuß zur Oper gehen. Tamara stockt: Warum nur war sie eigentlich nicht schon heute Mittag losgefahren, wie sie es im Grunde doch vorgehabt hatte? Ach richtig, sie war auf der Couch in der Wohnhalle eingeschlafen und hatte eigenartig geträumt. Aber was es genau war, hat sie vergessen. Tamara erinnert sich nie an ihre Träume.

Binnen weniger Minuten hat sich der Schneeregen in heftiges Schneetreiben verwandelt – die Sicht wird immer schlechter, und die ohnehin relativ kurvenreiche Landstraße auf einmal gefährlich rutschig. Soll sie aufgeben und zurückfahren? „Nein, keinesfalls!“, murmelt Tamara trotzig vor sich hin: Schließlich ging es heute Abend nicht um irgendeine x-beliebige Repertoirevorstellung, sondern um nichts Geringeres als die Wiedereröffnung der Oper. War diese doch zwei geschlagene Jahre lang geschlossen gewesen, und durfte nicht mehr spielen, obwohl sie unbedingt wollte. Doch COVID-19 und eine ignorante Politik hatten ihr den Atem genommen.

Aber jetzt, nach einer Ewigkeit, war die Oper endlich wieder ins Leben zurückgekehrt und feierte heute Abend mit der Zauberflöte ihre festliche Wiedergeburt. An diesem atemberaubenden Event durften selbstverständlich nur Geimpfte teilhaben. Und das war sie dank ihrer guten Beziehungen schon längst.

Mein Gott, wie Tamara der Zauberflöte entgegenfiebert, sie kann es kaum erwarten, endlich wieder Theaterluft zu schnuppern. Zu diesem besonderen Anlass hat sie auch die zwei brandneuen FFP2-Masken in ihrer Handtasche mit dabei, die ihr von der Intendanz der Oper als großzügiges Geschenk zugeschickt worden waren: Für den ersten Akt eine in tiefblau und mit wundervollen Sternchen drauf: Tamara hatte sofort an Schinkel denken müssen und die Königin der Nacht. Und für den zweiten gab es eine in strahlendem Sonnengelb – wie das Licht am Ende des Tunnels, so wie die Zauberflöte ja nun mal auch endete.

Angesichts der Opernwüste um sie herum, hatte Tamara auch die viele Hausmusik, auf die sie in den letzten zwei Jahren zwangsläufig reduziert worden war, nicht viel weitergeholfen. Hausmusik war schlichtweg kein Ersatz für großes Theater ! Immer nur am Klavier, meistens mit Susanne vierhändig spielend, war ihr auf Dauer einfach zu öde. Außerdem mag Rainer ihr Klavierspiel nicht sonderlich. Wenn er sie im Nebenzimmer spielen hört, stolpert er manchmal entnervt in den Raum hinein und bittet sie flehentlich, mit der Stümperei aufzuhören. Du spielst wie eine klappernde Eismaschine in Zeitlupe, hatte er sie erst neulich wieder angeblafft. Aber in dieser Hinsicht darf sie Rainer nicht allzu ernst nehmen. Schließlich ist er von Grund auf unmusikalisch. Und dafür kann er nichts, denn dies ist angeboren, das muss sie einfach akzeptieren.

Andererseits zeigt sich Rainer ihr gegenüber aber auch immer wieder überraschend großzügig, ja generös. So als es zum Beispiel mit ihnen beiden im Bett nicht mehr so recht funktionieren wollte, und dieser ihr auf einmal ohne lange Umschweife höchst willkommene Freiräume gewährte. Schließlich wollte er sie partout nicht verlieren. Folglich musste sie ihren Seitensprüngen künftig auch mehr heimlich nachgehen – das entspannte die Beziehung zu ihrem Ehemann ungemein. Und mit den Hormonen, die sie nun schon seit Jahren einnimmt, kann es für diesen auch nicht weiter verwunderlich sein, wenn sie sich selbst mit ihren 66 Jahren diese Freiräume auch weiterhin nehmen muss.

Mittlerweile spielt das Wetter derart verrückt, als wolle es Tamaras Zauberflötenpläne durchkreuzen. Denn im Handumdrehen hat sich der anfänglich eher harmlos anmutende Schneeregen in einen orkanartigen Schneesturm verwandelt – Tamara kann kaum mehr die Straße sehen und kommt nur noch im Schneckentempo voran. Vor ihr scheint auf einmal kein Auto mehr unterwegs. Aber ohne Rücklichter vor sich, tut sie sich furchtbar schwer, bei all dem Schneegestöber die Orientierung zu behalten. Seltsam aber, dass auch hinter ihr niemand mehr fährt, wie sie im Rückspiegel bemerkt.

Tamara ergreift ein tiefes Einsamkeitsgefühl. Und die Welt scheint mit einem Mal stillzustehen, obwohl sie mit immerhin 35 km/h dahinfährt. Das liegt wohl an den dichten Schneeflocken, die zu Myriaden aus dem Nachtschwarzen auf die wie eine Filmleinwand wirkende Windschutzscheibe zu wirbeln, und – von den Scheinwerfern ihres Wagens urplötzlich in hypnotisch-irisierendes Licht getaucht – einen derartig abstrakten Glitzertanz vor ihren Augen veranstalten, dass sie, wie in eine Art Trance versetzt, vermeint, alles um sie herum sei mit einem Mal zur Ruhe gekommen und würde sich im Ungefähren auflösen.

Tamara dreht durch: Wenn das so weitergeht, kann sie den ersten Akt der Zauberflöte vergessen. Hektisch blickt sie auf die Uhr, womöglich hat die Vorstellung ja schon begonnen? Entgeistert klopft sie sich auf die Stirn – mein Gott, die wird doch heute Abend live im Radio übertragen, das hätte sie fast vergessen: Hibbelig beugt sich Tamara zur Stereoanlage vor und stellt das Radio an: Mit Aplomb setzt die Ouvertüre zur Zauberflöte ein, so als hätte man extra auf sie gewartet: Einen Moment lang sieht sich Tamara auf ihrem Platz in der Vorstellung der Zauberflöte dasitzen und hingebungsvoll der Musik lauschen. Und gleichzeitig auch hier in ihrem Sportcoupé am Radio – das Doppelbild verstört sie.

Mein Gott, was hatte Tamara die Oper vermisst. Sie ist einfach süchtig nach dem seelischen Glamour, den sie verbreitet. Ein Glamour, der ihr Leben so wunderbar zum Prickeln bringt, und den sie sich als Statussymbol auch nicht nehmen lassen will. Ein Leben ohne Musik ist ein Irrtum, zitiert sie Nietzsche, und hat keinen blassen Dunst davon, was sie da gerade daherredet – Hauptsache, es prickelt. Und das soll es bitte auch bei den Männern. Am liebsten sind Tamara richtige Naturburschen, die auch dementsprechend rangehen, seien diese nun Skilehrer, Bauhandwerker oder Free-Climbing-Sportler. Ihre Freundin Susanne hingegen steht sonderbarerweise nur auf junges Gemüse. Aber was soll’s? Chaque animal a son petit plaisir.

Welch absurde Situation, sich so durchs Schneetreiben dahinkämpfen zu müssen und dabei auch noch die Zauberflöte zu hören, die sie eigentlich in der Oper sehen wollte – das Doppelbild lässt Tamara einfach nicht los. Mit einem Mal fühlt sie sich wie zweigeteilt. So, als würde sie die Dinge nicht mehr so richtig zusammenbekommen: Gespenster und ein Schneesturm, der nicht angesagt ist – das ist einfach einen Zacken zu viel für sie. Und wahrscheinlich auch für jeden anderen, dem derartig Absurdes widerfährt.

Tamara bangt, Schweiß steht ihr auf der Stirn: Zur Pause wird sie es doch wohl hoffentlich noch schaffen. Diese ist heute nämlich besonders lang. Die strikten Kontakteinschränkungen machen dies ja erforderlich. Denn da jeder der frisch geimpften Opernfans, der in der Pause auch in den Genuss von Champagner kommen soll, aufgrund der rigiden Verhaltensregeln nur mit anderthalb Metern Abstand zum Nächsten mit seinem Mundschutz am Büfett Schlange stehen darf, dauert es eben seine Zeit, bis jeder derselben auch endlich seinen Champagner hat. Schließlich sind die Opernfanatiker von heute doch schon in weit fortgeschrittenem Alter und kommen dementsprechend nur mehr sehr langsam voran. Aufgeregt knipst Tamara das Innenlicht ihres Wagens an und wirft sich einen prüfenden Blick im Rückspiegel zu: Perfekt! Mein Gott, was werden die Leute im Foyer staunen, wie jung und knackig sie geblieben ist in all der furchtbaren Zeit.

Dass die Oper so lange geschlossen war, hatte Tamara schwer erzürnt. Da war ihr die Online-Petition KÄMPFT FÜR EURE OPER gerade zupassgekommen. Dass dieser Aufruf aber nicht aus dem Publikum, wie sie eigentlich erwartet hatte, sondern aus der Intendanz der Oper kam, die sich offenbar dazu angehalten sah, die Öffentlichkeit auf ihre gesellschaftliche Relevanz hinzuweisen, hatte sie mehr als irritiert. Deshalb hatte sie auch alles versucht, ihre Opernfreunde dazu zu bewegen, mit ihr für die Oper auf die Straße zu gehen. Aber keiner von denen hatte den Mumm dazu. Das hatte sie, ehrlich gesagt, am allertiefsten getroffen. Sie bereute es, sich vorsichtshalber schon einmal nach einer Cateringfirma umgesehen zu haben, die sie und ihre Mitkämpfer während des Demonstrationszugs mit leckeren Häppchen verwöhnen würde. Und mitten im Winter natürlich auch mit Glühwein, zum tapferen Durchhalten während der Aktion. Musik aber würde es dabei keinesfalls geben dürfen, schließlich ging es ja nicht um einen Aufzug zum Oktoberfest, sondern vielmehr darum, die Wunderwelt der Oper, die schließlich eine lange Tradition hatte, mutig vor dem Aussterben zu retten.

So waren auch schon Tamaras Großeltern und Eltern in der Nachkriegszeit nach Bayreuth oder Salzburg gepilgert. Das hatte in ihrer Familie einfach Tradition. Mein Gott, was waren das für Zeiten gewesen. Heute aber kam es Tamara manchmal so vor, als stünde sie mit ihrem Faible für die Oper ganz allein auf weiter Flur und gehöre einer schnöden Minderheit an, die sich dafür auch noch verteidigen müsse. Mein Gott, was würde sie dafür geben, in der Belle Époque gelebt zu haben – da waren Welt und Oper noch eins.

Kapitel 3 und 4

3

Mit einem Mal wird Tamara jäh aus ihren tristen Gedanken gerissen – ihr Sportcoupé ist auf der mittlerweile tief verschneiten Landstraße gefährlich ins Schlingern geraten. Hektisch versucht sie noch gegenzusteuern, doch bald schon verliert sie die Kontrolle über den Wagen, der schließlich mit einem dumpfen Wummern übel von der Straße abkommt, während Papageno aus dem Radio Der Vogelfänger bin ich ja, stets lustig heissa hopsasa! singt. Und ehe sie sich‘s versieht, taucht ihr Luxusschlitten mit seiner langen, vorwitzigen Schnauze nun auch noch in eine hochaufragende Schneewechte ein, die sich neben der Landstraße aufgebaut hat, zieht für Momente einen weiß-glitzernden Kometenschweif hinter sich her, und kommt mit einem kurzen, aber heftigen Donnergetöse im meterhohen Schnee endlich zum Stillstand.

Mit flirrenden Augen sitzt Tamara da, das Steuerrad noch fest in Händen, und scheint – von ihrem Unfall tief geschockt – nichts mitbekommen zu haben. Abwesend starrt sie ins stürmisch-weiße Nichts hinaus und lauscht gebannt Papagenos Worten, der ihr immer näher rückt: Und küsste sie mich zärtlich dann, wär sie mein Weib und ich ihr Mann, haucht er ihr mit seinem Zuckerbariton zu und zaubert auf einmal ein erwartungsfrohes Lächeln auf ihr Gesicht. Sie schlief an meiner Seite ein, ich wiegte wie ein Kind sie ein ... Hingerissen öffnet Tamara den Sicherheitsgurt, prüft sich noch kurz im Rückspiegel und will beseelt die Wagentüre öffnen.

Doch das gelingt ihr nicht auf Anhieb. Erst als sie sich mit ganzer Kraft mehrfach gegen die Türe wirft, um so den hohen Schnee draußen etwas beiseitezuschieben, schafft sie es endlich, sich aus dem Wagen zu zwängen und ins Freie zu gelangen. Dort aber nimmt sie nicht Papageno, sondern augenblicklich der draußen herrschende Schneesturm in Empfang und zerstört ihre nachgerade perfekt sitzende Frisur binnen Sekunden auf widerliche Art und Weise. „Verflucht, auch das noch“, entfährt es Tamara, die hilflos versucht, mit schützenden Händen noch das Schlimmste zu verhüten.

Völlig entgeistert an ihren Wagen gelehnt und Halt suchend, blickt sich Tamara verwirrt um – verdammt, wo ist sie? Bei all dem Schneetreiben und der Nachtschwärze um sie herum vermag sie nicht das Geringste zu erkennen. Dennoch aber ist ihr glücklicherweise wenigstens etwas Helligkeit geblieben, wie sie erleichtert bemerkt. Denn unter der hohen Schneedecke leuchten noch wundersamer Weise die Scheinwerfer ihres ansonsten völlig ramponierten Coupés zu ihr herauf und verschaffen ihr wenigstens etwas Orientierung. Dass aber auch die Zauberflöte noch immer im Radio läuft, scheint Tamara für selbstverständlich zu erachten. Mein Gott, was gäbe sie darum, jetzt in Papagenos Armen zu liegen.

Bibbernd schlägt sie den Kragen ihres Nerzmantels hoch und arbeitet sich durch den Schnee zurück zur Landstraße vor, deren Kontur in der Finsternis nur mehr zu erahnen ist. Ein Glück, dass sie so durchtrainiert ist, das hilft ihr jetzt, behände durch den tiefen Schnee voranzukommen.

Als sie endlich die Landstraße erreicht, verharrt sie im Schneegestöber und späht mit zusammengekniffenen Augen nach Lichtern, die sich ihr nähern würden. Ihr, die da mutterseelenallein im Schneechaos steht und nicht weiterweiß. Doch alles bleibt dunkel. Irritiert blickt Tamara zu Boden – um diese Zeit herrscht hier doch sonst noch reger Verkehr? Es ist wie verhext.

Bald schon verspürt Tamara die feuchte, widerliche Kälte, die ihr unerbittlich unter den Mantel kriecht und in ihren Körper vordringt. Ein schrecklicher Gedanke keimt in ihr auf: Wird sie jetzt sterben müssen – erfrieren im eisigen Niemandsland? Wo man sie morgen womöglich nicht mehr finden wird, weil sie – längst erfroren – tief unter der Schneedecke begraben liegt.

Mit einem Mal klingt die Stimme der Königin der Nacht zu ihr herüber:

Der Hölle Rache kocht in meinem Herzen, Tod und Verzweiflung, Tod und Verzweiflung flammet um mich her!

Tamaras Herz zieht sich zusammen – die Königin der Nacht! So als ob diese sie eingeholt und hier abgepasst hätte. Und als sich Tamara, die Böses ahnt, zögerlich umwendet, sieht sie sich mit einem Mal tatsächlich der hochaufragenden Gestalt der Königin gegenüber, die im furchtbaren Schneetreiben hoch oben über der immensen Wechte schwebt, die Tamaras Coupé gerade unter sich begrub. Diesmal aber blickt deren Erscheinung sie mit blitzenden und zornigen Augen an, und beileibe nicht mehr so milde wie heute am Spätnachmittag im Entree ihrer Villa, als Tamara sie vor der weit offenen Haustüre erblickte: Sie solle sich sputen, es wäre an der Zeit, hatte die Königin ihr wohlwollend zugeraunt und dabei auch noch besorgt den Hausschlüssel hingehalten.

Jetzt aber wirkt die nächtliche Erscheinung auf einmal wie eine Rachegöttin auf sie, wolkenhaft umhüllt vom Stoff ihres jetzt scheinbar endlos langen, beinahe schwarzen Kleides, dessen Perlen im Sturm glitzern und funkeln wie ein irrlichterndes Menetekel – eiskalt beleuchtet von den Scheinwerfern des BMWs, dessen Halogenlicht erbarmungslos von unten durch die Schneedecke hindurch nach oben dringt und der über ihr schwebenden Gestalt ein entsetzlich bedrohliches Aussehen verleiht.

Voller Angst versucht Tamara der Furie zu entkommen und hastet so schnell sie kann die nachtfinstere Straße hinunter, als sie urplötzlich innehält und ungläubig aufblickt: Denn mit einem Mal tauchen die Scheinwerfer eines Autos vor ihr auf das sich ihr rasch nähert, bald aber schon nicht mehr allzu weit entfernt scheint, sich jetzt aber direkt vor ihren entsetzten Augen befindet – im flirrenden Nichts gelingt es Tamara nicht, die wahre Entfernung des Wagens einzuschätzen. In Schockstarre steht sie da – ohnmächtig dem Unvermeidbaren entgegensehend. Doch nichts dergleichen passiert: Scheinbar geräuschlos kommt das seltsame Gefährt direkt vor ihr zu stehen, ohne dass ihr etwas zugestoßen wäre. Das kann nur Papageno sein, der gekommen ist, um sie zu retten, schießt es Tamara durch den Kopf.

„Na Lady, das ist ja noch mal gut gegangen!“, hört Tamara urplötzlich eine Männerstimme. Völlig perplex sieht sie sich im wilden Schneetreiben auf einmal einem kräftig gebauten Kerl gegenüber, der ihr frech ins Gesicht grinst.
„Keine Panik, Lady, ruft ihr der Typ lakonisch zu. „Ich habe sie beizeiten hier stehen sehen, besitze nämlich Luchsaugen, müssen Sie wissen. Da brauchte ich gar nicht erst groß auf die Bremse zu treten, und hab meine Karre einfach ausrollen lassen. Übrigens, Ted ist mein Name. Willkommen in der Pampa.“ Der Mann lacht skeptisch auf und schielt besorgt zu Tamaras Coupé hinüber. „Na, offensichtlich ist wenigstens Ihnen nichts Schlimmes passiert, oder?“
„Was …?“ Fassungslos blickt Tamara zu ihrem tief in der Schneewechte feststeckendem Coupé hin und verharrt eine Weile in dessen Anblick versunken. Erst jetzt wird ihr bewusst, was da gerade eigentlich passiert ist.
„Ist wirklich alles okay mit Ihnen?“, hakt der Typ besorgt nach und lässt Tamara nicht aus den Augen.
„Aber ja doch …“, erwidert Tamara völlig konfus und versucht sich wie beiläufig die Haare zu richten. Gott sei Dank ist die Rachegöttin verschwunden und hat sich in Luft aufgelöst.

„Na, wenn ihnen weiter nichts fehlt, sollten sie jetzt endlich mal die verdammte Musik in ihrem Superflitzer dort drüben ausschalten. Die passt nun wahrhaftig nicht zu dieser Situation. Schließlich sitzen wir hier nicht wie in der Oper in Samtsesseln rum.“
Tamara schaut den Mann fassungslos an. „Die Musik läuft weiter, junger Mann“, fährt sie empört auf. „Das geht Sie nun wirklich nicht das Geringste an. Außerdem wäre es fatal, sich so an der Königin der Nacht zu rächen und ihr einfach den Ton abzudrehen.“
„Versteh nicht ganz, Lady …“, murmelt der Typ konsterniert und schaut Tamara prüfend in die Augen.
„Das zu erklären, ist jetzt nun wirklich zu kompliziert!“, murmelt Tamara abwehrend und rückt sich den Kragen zurecht.
„Ganz wie Sie meinen!“, raunzt der Typ kopfschüttelnd. „Dann sollten wir jetzt die Polizei informieren und einen Abschleppwagen organisieren.“
„Keine Polizei!“, wehrt Tamara entrüstet ab. „Bis die bei diesem Wetter kommt, sind wir hier längst erfroren. Ein Abschleppwagen aber ist okay. Hier handelt es sich ja ganz offenkundig nicht um Fahrerflucht, oder?“
„Soweit ich erkennen kann, nein!“, erwidert der Typ und schaut sich skeptisch um.
„Dann können Sie mich ja in ihrem Wagen da mitnehmen, wenn das nicht zu viel verlangt ist, Ted?“ Zielsicher setzt Tamara ihr verführerisches Lächeln auf und wartet auf Teds Reaktion.
„Aber natürlich, Lady. Ich lass sie doch hier im Schneesturm nicht allein, wo denken Sie hin? Allerdings kann ich Sie nur bis zur Stadtgrenze mitnehmen ...“
„Was? Das darf doch nicht wahr sein!“, unterbricht Tamara gereizt.
„Geht leider nicht anders,“, antwortet der Typ kurzangebunden. „Ich habe nämlich noch ein paar Termine.“
„Ach, das ist ja jammerschade“, erwidert Tamara sichtlich enttäuscht.
„Es geht leider nicht anders, Lady. Ich muss nämlich noch einige Welpen ihren neuen Herrchen vorbeibringen. In diesen Tagen will plötzlich jeder ein Tier haben, weil er es wegen der andauernden Ausgangssperre mit sich selbst allein zuhause offenbar nicht mehr aushält. Und ich liefere frei Haus, müssen Sie wissen. Das Geschäft mit Tieren brummt. Im Internet werden sogar Affen für ein paar Euro angeboten. Aber an so einem Irrsinn beteilige ich mich nicht, glauben Sie mir!“

Tamara lacht ungläubig auf. Was für ein Glück – jetzt hat sie ihren Papageno. Der ist nämlich auch Tierhändler.

4

Tamara sitzt auf heißen Kohlen – Papageno fährt so hasenfüßig, als hätte er gerade erst den Führerschein gemacht. So ist es wohl auch der erste Schneesturm, den er am Steuer zu bewältigen hat. Tamara muss an sich halten, um sich nicht zu einer Bemerkung hinreißen zu lassen. Glücklicherweise hat der Schneesturm etwas nachgelassen, aber auch das scheint Papageno nicht unbedingt zur Eile anzutreiben. Entnervt schielt sie zur Uhr auf dem Armaturenbrett des Kleintransporters – verdammt, jetzt kann sie auch die Pause vergessen, die ist ja sicher längst vorbei. Aber vom zweiten Akt wird sie doch hoffentlich noch etwas mitbekommen …?
„Mein Gott, so fahren Sie doch etwas zügiger, Ted. So schlimm kann das alles doch nicht sein“, bricht es plötzlich aus Tamara heraus.
„Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste“, gibt ihr der lapidar zurück und schaut weiterhin stur auf die Straße.

Ted wird Ende dreißig, Anfang vierzig sein, denkt Tamara, während sie Papageno heimlich von der Seite betrachtet. Im Halbdunkel des Wageninneren wirkt er noch attraktiver als vorhin draußen im grellen Scheinwerferlicht.
Tamara geht zum Angriff über: „Wissen Sie eigentlich, was mir da gerade vorhin mit Ihnen passiert ist, Ted? Als Sie bei diesem Wahnsinnswetter so selbstgewiss auf mich zukamen, meine ich?“
„Wie sollte ich …?“  
„Nun, ich hatte im Autoradio ja gerade die Zauberflöte gehört. Kennen Sie das Stück eigentlich?“
„Aber ja doch!“
Tamara schaut Ted ungläubig an: „Ach so. Das ist aber wirklich erstaunlich.“
„Was sollte daran erstaunlich sein? Ich habe schließlich schon zigmal in der Zauberflöte gesungen ...“

Tamara beißt sich auf die Lippen und weiß einen Moment lang nichts mehr zu sagen: Wenn Ted jetzt in Papagenos Kostüm und Maske da neben ihr säße, sie würde sich nicht wundern. „Und welche Rolle, wenn ich fragen darf …?“, sagt sie endlich betont sachlich und fiebert Papagenos Antwort entgegen.
„Na, welche wohl?“ Ted lacht schallend auf: „Den Papageno natürlich. Ich bin doch kein Tamino?“
„Aber nein, um Gottes Willen, so wie dieser Langweiler sehen Sie nun wirklich nicht aus!“ ruft Tamara enthusiastisch. „Für mich sind Sie einfach der geborene Papageno. Wann singen Sie den denn wieder?“ Tamara lässt Ted nicht aus den Augen.
„Nun ja. Ich musste umsatteln“, erklärt Ted unumwunden. „Singen geht ja nicht mehr, denn die Oper ist zu. Also züchte ich jetzt Dobermänner und verdiene wirklich nicht schlecht dabei. Dagegen sind viele meiner ehemaligen Kollegen richtig beschissen dran, da hatte ich noch Glück.“
„Aber den Papageno kann dir niemand nehmen, Ted“, ruft Tamara euphorisch aus und kneift Ted beherzt in den Oberschenkel. Der aber schlägt ihr wortlos auf die Finger, ohne den Blick von der Straße zu lassen.

„Na hör mal, Ted, was machst du? Erst legst du im Schneesturm einen grandiosen Auftritt hin, nachdem du mir vorher im Radio schon die schönsten Avancen machtest, und jetzt tust auf einmal so, als hättest du mit alldem nicht das Geringste zu tun. Erinnerst du dich denn nicht?“ Tamara beginnt zu singen, wobei sie keinen Ton richtig trifft: „Und küsste sie mich zärtlich dann, wär sie mein Weib und ich ihr Mann. Sie schlief an meiner Seite ein, ich wiegte wie ein Kind sie ein ...“
Ted schaut mit schmerzverzerrtem Gesicht zur Seite und würde sich am Liebsten die Ohren zuhalten, wenn er nicht am Steuer säße.
„Nun hab dich nicht so, Ted“, versucht Tamara einzulenken: „Ist es denn nicht wunderbar, dass wir uns unter so verrückten Bedingungen hier in dieser furchtbaren Einsamkeit getroffen haben. Das kann doch nur Schicksal sein, so etwas schweißt doch zusammen?“
 
Völlig entnervt geht Ted auf die Bremse und macht Anstalten, anzuhalten.
„Was soll das, Ted? Du wirst mich doch hoffentlich nicht rausschmeißen? Bin ich dir denn völlig egal? Außerdem kann das hier doch noch lange nicht die Stadtgrenze sein? Da stehen doch nur ein paar Häuser in der Gegend rum!“
„Das ist mir völlig egal, Lady. Ich lass Sie jetzt hier raus. Sie können hier sicher irgendwo telefonieren und sich ein Taxi rufen.“
„Ein Taxi, hier draußen. Das dauert doch Stunden, bis da eines kommt. Ich habe es eilig Ted, Ich muss in die Zauberflöte!“
„In die was …? So raus jetzt, Lady. Es reicht.“

Stoisch lässt Ted den Wagen ausrollen, beugt sich dann über Tamara hinweg zur Beifahrertüre und stößt diese brüsk auf. „Endstation, Lady. Bitte aussteigen“, ruft er zornig, richtet sich wieder auf und zündet sich demonstrativ eine Zigarette an.
„Na sowas. So herzlos bin ich noch nie von einem Mann behandelt worden“, schreit Tamara entrüstet durchs Wageninnere und springt tief verletzt aus dem Kleintransporter auf die verschneite Straße hinaus, während hinten in dessen Transportraum plötzlich zig Welpen aufgeregt zu bellen beginnen, weil sie glauben, jetzt endlich zu ihrem neuen Herrchen zu kommen.

Kapitel 5

5

Und wieder steht Tamara mutterseelenallein im nächtlich weißglitzernden Nichts, was sie allerdings derart verwirrt, dass sie für Momente glaubt, immer noch unweit ihres völlig ramponierten Coupés bei Eiseskälte auf der tief verschneiten Landstraße dazustehen, verzweifelt auf Hilfe hoffend – so, als hätte es Ted nie gegeben. Dass sich der Schneesturm jedoch längst verzogen hat und mittlerweile der Mond sichelförmig am Nachthimmel steht, scheint sie nicht zu bemerken. Erst als sie die Fahrspuren des Kleintransporters vor sich im tiefen Schnee entdeckt, findet sie rasch wieder in die Realität zurück und weiß glücklicherweise sofort, wo sie sich befindet: Verflucht, eigentlich wollte sie ja auf Teufel komm raus zur Zauberflöte – trotz aller Widrigkeiten, die sich ihr in den Weg gestellt hatten. Aber nicht einmal auf einen Papageno war Verlass. Es ist vorbei, die Zauberflöte kann sie vergessen: Tränen der Verzweiflung treten ihr in die Augen.

Plötzlich aber hält Tamara konsterniert inne, weil sie glaubt, auf einmal Musik zu hören. Es ist der Marsch der Priester zu Beginn des zweiten Aktes der Zauberflöte. Doch dieser klingt, als wäre er ein Trauermarsch, der zum Begräbnis irgendeines Dahingerafften gespielt wird. Die Todesgedanken, die erneut in ihr aufsteigen, schiebt sie ärgerlich beiseite, Tamara will unbedingt wissen, woher die Musik kommt.

Es ist ein kleines, schnuckeliges Haus mit einem schmalen Vorgarten aus den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts, aus dem die Zauberflöte zu ihr herübertönt. Doch an den vielen hohen Bäumen gemessen, die hinter dem Häuschen in den Nachthimmel aufragen, muss es einen riesigen, parkähnlichen Garten haben. Selbst durch die geschlossenen, hellerleuchteten Fenster unten im Parterre ist das Stück hier draußen noch deutlich zu hören – Tamara lauscht, gerade werden Papageno und Tamino von den Priestern mächtig unter Druck gesetzt, die beiden erklären, schwere Prüfungen vor sich zu haben – Tamara kann jedes Wort des Dialogs deutlich verstehen. Offenbar hört sich da drinnen gerade jemand die Direktübertragung der Zauberflöte im Radio an. Das können nur Opernfanatiker sein. Wer sonst würde sich heutzutage noch stundenlang vors Radio hocken, um sich eine Oper anzuhören?

Aufgemuntert setzt sich Tamara in Bewegung, stapft durch den tiefen Schnee auf das traumverloren daliegende Haus zu und klingelt am Gartentor. Doch niemand öffnet. Kein Wunder, bei der Lautstärke der Musik da drinnen würde selbst Tamara das Klingeln nicht hören, obwohl sie sonst überaus aufmerksame Ohren hat, und rasch bemerken würde, dass das Klingeln nicht zur Musik passt.

Ungeduldig schiebt sie die Gartentüre auf, was ihr jedoch selbst nach einigem Hin und Her nicht gelingen will – der Schnee ist schlichtweg zu hoch und schwer. Und wiederum fällt Tamara in die Vergangenheit zurück und sieht sich für Augenblicke mit der Wagentüre ihres Sportcoupés kämpfen, die sie wegen der hohen Schneewechte, in der ihr Wagen bis über die Schnauze feststeckt, einfach nicht zu öffnen vermag – so als wäre sie für immer in ihrer Luxuskarre gefangen und müsse in dieser jämmerlich erfrieren wie in einem eisigen Blechsarg.

Ganz wider Erwarten aber gelingt es Tamara doch noch, unter großem Kraftaufwand das Gartentor aufzustemmen. Eigenwillig entschlossen watet sie durch den Vorgarten am Hauseingang vorbei zu einem der Fenster seitlich des sichtlich in die Jahre gekommenen Gebäudes und äugt neugierig hinein. Als sie aber auf einmal drei ältere Damen in einem mit Kommoden und Beistelltischchen vollgerammelten Wohnzimmer in schrulligen Omasesseln dasitzen sieht, die aus einem alten, von dunkelbraunem Holzfurnier umkleideten Radio die Zauberflöte hören und dabei immer wieder sichtlich amüsiert tuscheln und kichern, hält sie verblüfft inne und traut ihren Augen nicht.

Doch der Schabernack geht weiter: Denn als die drei Damen im zweiten Akt der Zauberflöte schließlich auftreten und Tamino und Papageno mächtig Angst einflößen, weil sie behaupten, die Königin der Nacht sei bereits ins Reich Sarastros eingedrungen, um sich an diesem zu rächen, springen drinnen im Wohnzimmer jetzt auch die drei ziemlich korpulenten und schrulligen Damen von ihren Sesseln auf und deklamieren den Text der drei Damen im Radio praktisch synchron mit, während sie die Szene nun auch leibhaftig mitzuspielen beginnen – so als würden sie diese Zauberflöten-Karaoke-Nummer auf irgendeiner Vorstadtbühne zum Besten geben und hätten sich als Werbegag dabei auch noch selbst inszeniert. Tamara lacht schallend auf.

„Mein Gott, da draußen steht ja die Königin der Nacht und wartet auf ihren Auftritt“, ruft auf einmal eine der drei Damen, die Tamara durchs Wohnzimmerfenster draußen im Garten bemerkt.
„Um Gottes Willen, so kommen Sie doch herein. Sie holen sich da draußen ja noch den Tod!“, ruft die Erste und öffnet hektisch die Verandatüre.
„Du meine Güte, Sie sehen ja völlig unterkühlt aus“, ruft die Zweite, die im Hintergrund, über ein Tischchen gebeugt, aufgeregt heißen Tee in eine zierliche Tasse gießt.
„Kommen Sie, gnädige Frau, setzen Sie sich doch erst einmal und trinken Sie etwas Warmes“, ergänzt die Dritte beflissen, nimmt Tamara am Arm und bugsiert sie zu einem Sessel, der hinten direkt neben dem Holzofen steht.
„Erzählen können Sie uns ja später, wenn es Ihnen wieder besser geht“, tönt die Erste, während sie die Verandatüre wieder schließt.
„Und lassen sie den Nerz am besten erst einmal an, bis Ihnen wieder wärmer ist.“, ruft die Zweite, die mit ihrer Teetasse herangetreten ist und darauf wartet, bis sich Tamara, die der Situation völlig ausgeliefert zu sein scheint, endlich setzt.
„Wir hören uns nämlich gerade zusammen die Zauberflöte an“, erklärt die Erste, die Tamara den Sessel ungeduldig zurechtrückt. „Gerade hat der zweite Akt angefangen.“
„Die Zauberflöte ist unser Lieblingsstück, müssen Sie wissen“, flötet die Zweite und trinkt vor lauter Aufregung versehentlich vom Tee.
„Eigentlich würden wir drei ja heute Abend viel lieber in der Vorstellung sitzen, statt hier vor dem Radio“, trauert die Dritte, die Tamara endlich mit Aplomb in den Sessel drückt und sich neben sie auf die Lehne setzt.
„Mein Gott, was haben wir gezittert, ob wir Karten bekommen“, ruft die Erste, die sich jetzt direkt vor Tamara mit all ihrer Korpulenz aufgepflanzt hat und auf einmal ein furchtbar ernstes Gesicht macht.
„Aber als Normalbürger, die wir drei ja nun mal sind, hatten wir keinerlei Chance, auch nur ein Kärtchen zu ergattern“, trauert die Dritte, die Tamara auf der Sessellehne ziemlich auf die Pelle rückt.
„Wirklich deprimierend, finden Sie nicht auch?“, sagt die Zweite, die die Erste etwas beiseiteschiebt, um Tamara endlich den Tee zu servieren, den sie mittlerweile allerdings schon halbleer getrunken hat.
„Dabei haben wir drei schon seit 31 Jahren ein Opernabonnement und gehen immer zu dritt“, erklärt die Erste und geht aufmerksam zum großen Wohnzimmerfenster hinüber, hinter dem ein großer und weitläufiger Garten liegt.
„Und nach all der langen Zeit ohne Oper hatten wir uns doch so riesig auf die Vorstellung heute Abend gefreut. Aber leider vergebens …“, ergänzt die Dritte und versucht sich ihre hennagefärbten Haare etwas zurechtzurichten.
„Was für ein wundervoller Nerz, den Sie da tragen“, raunt die Zweite auf einmal und beugt sich etwas zu Tamara hinunter, um ihren Pelzmantel zu befühlen, während diese sprachlos die Teetasse in der Hand hält, ohne einmal getrunken zu haben.
„Ein Nerz steht nicht jedem“, sagt die Dritte gereizt und klopft der Zweiten harsch auf die Finger. Tamara weiß nicht, wie ihr geschieht und lässt die beiden Damen hilflos gewähren.
„So seid doch endlich mal still“, ruft die Erste, die auf einmal völlig aufgeregt aus dem Wohnzimmerfenster nach draußen blickt. „Gleich tritt unsere Königin auf und wird ihrer Tochter Pamina den Dolch zustecken, mit dem sie Sarastro erstechen soll.“
„Im Gegenteil zu unserer Kollegin dort am Fenster halten wir zwei hier nicht so viel von unserer Königin, müssen Sie wissen“, flüstert die Dritte Tamara augenzwinkernd zu.
„Sie hat ein kaltes und berechnendes Herz und nur Rache und Tod im Kopf“, raunt die Zweite und schaut Tamara vielsagend an.
„Aber das wissen Sie ja sicher“, ergänzt die Dritte beflissen und schaut skeptisch Richtung Fenster zur Ersten.

„Nun kommen Sie doch, gnädige Frau, den Auftritt der Königin der Nacht sollten Sie nicht verpassen,“, ruft die Erste Tamara zu und winkt diese bedeutungsvoll zum Fenster.
Wie automatisch schiebt Tamara die zweite Dame neben sich auf der Sessellehne etwas von sich, erhebt sich zögerlich und geht, sich an der vor ihr stehenden dritten Dame vorbeischlängelnd, langsam zum Wohnzimmerfenster hinüber, wo sie bangen Herzens in den nächtlichen Garten hinausblickt, der ihr mit einem Mal eigentümlich bekannt vorkommt. Bevor sie jedoch den Grund hierfür erkennen kann, driftet sie plötzlich ab, als ereile sie eine fatale Absence.

Kapitel 6 und 7

6

Als Tamara wenige Augenblicke später wieder zu sich kommt, steht sie zwar immer noch am Fenster und schaut herzklamm in einen Garten hinaus, jetzt aber mit einem Mal vor den hohen Fenstern ihrer eigenen Wohnhalle, von wo sie ängstlich-irritiert die Parkanlage ihres großzügigen Anwesens mustert, ohne von diesem wahrhaft mirakulösen Ortswechsel zunächst irgendetwas mitzubekommen. Der Park da draußen kommt ihr auf einmal völlig verändert vor – so befremdlich, wie sie ihn noch nie gesehen hat. Im Zwielicht der Abenddämmerung wirkt er auf einmal erschreckend düster und unheimlich auf sie – wie ein verwunschener Ort. Die kahlen Äste und Zweige der hohen alten Bäume zaubern ein bizarres Spinnennetz in den tiefblauen Himmel – wie geschaffen für den Auftritt der Königin der Nacht. Tamara würde sich nicht wundern, diese da gleich irgendwo zu sehen – im Düsteren dort hinten zwischen den Rhododendronbüschen zum Beispiel.

Tamara stockt der Atem – mein Gott, das hat sie doch alles schon einmal erlebt. Befindet sie sich doch offenbar in exakt der identischen Situation wie heute am Spätnachmittag, kurz bevor sie zur Oper losgefahren war. Da hatte sie doch auch hier in der Wohnhalle gestanden, ängstlich-fröstelnd in den Park hinausgesehen und unwillkürlich an die Königin der Nacht gedacht, die ihr kurz später dann ja auch in der Vorhalle erschienen war.

Entgeistert blickt sich Tamara um und späht mit gestrecktem Hals durchs Foyer nach der Haustüre. Und die steht weit offen. Offenbar immer noch. Auch der Schlüssel steckt noch im Schloss – so als hätte sie das Haus nie verlassen. Fassungslos blickt Tamara auf die Uhr. Es ist 16 Uhr 34. Verflucht, ist sie etwa zurückkatapultiert worden in der Zeit? Tamara zögert – diesen Eindruck hatte sie doch auch vorhin schon gehabt, als sie das verdammte Gartentor zum Haus der drei verrückten Damen wegen des hohen Schnees nicht gleich aufgekriegt hatte, und währenddessen für Momente glaubte, nach ihrem Unfall immer noch in ihrem Wagen zu sitzen und die verdammte Wagentür wegen des hohen Schnees draußen nicht öffnen zu können.

Und nun? Was tun? Entgeistert blickt sich Tamara um - ist sie etwa Teil eines Experiments? Der Ohnmacht nahe fällt sie auf die Couch zurück und erstarrt vor Angst. Eine Ewigkeit lang wagt sie es nicht, auch nur für einen Moment aufzublicken: Ist sie in einer Parallelwelt gelandet, in der es jetzt drei Stunden früher ist als auf der Erde?

Es wird eiseskalt – unerbittlich dringt der Winterfrost ins Haus. Verstört schreckt Tamara auf und blickt zur immer noch offenstehenden Haustüre, die sie völlig vergessen hatte. Ängstlich rappelt sie sich auf und geht unsicher durch die Wohnhalle Richtung Entree zur Haustüre hinüber. Dabei kommt sie sich vor, als ginge ihre Doppelgängerin aus der Vergangenheit neben ihr her, die skeptisch darauf achten würde, dass sie sich tunlichst exakt so verhält wie diese es ein paar Stunden zuvor auch schon getan hatte. Und dies bitte so präzise wie eine Atomuhr – so als wäre sie die exakte Kopie ihrer Doppelgängerin und ihr der Weg immer schon vorgegeben. Was gewesen war, war mit einem Mal wieder zum Jetzt geworden und wiederholte sich.

Tamaras Herz stockt: Verdammt, vielleicht hatte sie die aberwitzige Fahrt zur Zauberflöte ja nur geträumt? Verzweifelt wirft sie die Haustüre ins Schloss und lässt sich mit dem Rücken gegen das schwere Holz fallen – reflexhaft lässt sie die Ereignisse auf ihrer Horrorfahrt noch einmal an sich Revue passieren, so als wolle sie sich ihres Verstandes vergewissern.

7

Draußen ist es Nacht geworden, das Innere der Landvilla liegt in Düsternis da, ohne dass Tamara davon etwas mitbekommen hätte. Noch immer verharrt sie in der Vorhalle an die schwere Haustüre gelehnt, und versucht sich wie gerädert einen Reim auf ihre absurde Situation zu machen. Sie muss all das, was ihr vermeintlich die letzten Stunden über widerfuhr, geträumt haben, anders konnte es nicht sein – schließlich war die Zeit nicht zu manipulieren.

Ohne Licht zu machen, schleicht sie im Dunklen endlich in ihre Wohnhalle zurück und starrt – immer noch in ihren Nerz gehüllt – in den nächtlichen Park hinaus, der sich wie eine schwarze Wand bedrohlich vor ihren Augen aufbaut. Irritiert schaltet sie das Licht der Parkbeleuchtung ein und hält verwundert inne: Im künstlichen Licht der überall am Fuße der alten hohen Bäume platzierten Scheinwerfer wirkt der Park auf einmal wie eine altertümlich-kolorierte Lithografie einer kahlen und trostlosen Winterlandschaft aus einer längst vergangenen Epoche, der zur Idylle schlichtweg der Schnee fehlt. Mein Gott, der verdammte Schneesturm! Sollte sie den tatsächlich nur geträumt haben? Völlig verzweifelt greift Tamara nach ihrem Handy in der Seitentasche ihres Nerzmantels und wählt die Telefonnummer ihrer Busenfreundin Susanne.

„Hallo Susanne. Nein, ich bin nicht unterwegs. Das heißt, ich war unterwegs und bin umgekehrt. War nämlich ein entsetzlicher Schneesturm. Wie? Da war keiner? Aber hier auf dem Land schon. Was? Es herrscht ein durchgängiges Hoch hier, hast du gerade im Wetterbericht gehört. Ob ich verwirrt bin? Wie kommst du denn darauf? … Ja, ich weiß, wir haben gerade eben erst telefoniert … jaja, vor ein paar Minuten. Wie bitte? Nein, ich muss jetzt Schluss machen ...“

Tamara legt auf. Also doch: Sie hatte geträumt, wie sie richtig vermutete: Eine Art Tagtraum musste sie da gerade vorhin überfallen haben – Tamara kennt sich da nicht so aus. Verwirrt greift sie erneut nach ihrem Handy und googelt „Tierzüchter für Dobermänner“. – Ted Lohmann, liest sie bald. Exklusivzucht von Dobermännern. Bieten aber auch andere Hunde an und liefern in COVID-19-Zeiten frei Haus. Tamara entgleitet das Handy. Mein Gott, sie hatte doch nicht geträumt! Frische Luft. Sie braucht frische Luft – sie muss nach draußen!

Hektisch reißt Tamara die Terrassentüre auf und tritt völlig außer sich ins Freie. Eine Weile verharrt sie wie benommen auf ihrer weitläufigen Terrasse und blickt argwöhnisch in die ihr zu Füßen liegende, künstlich illuminierte Parklandschaft hinunter. Endlich schließt sie die Augen und atmet tief ein und aus, so wie sie es von ihrem smarten, bildhübschen Yoga-Guru einst gelernt hatte, um Stress abzubauen.

Plötzlich aber reißt sie erschrocken die Augen auf. Hat sie da gerade jemanden kichern hören? Skeptisch checkt sie die Umgebung und hastet schließlich leise die Stufen zum Park hinunter, wo sie immer wieder auf dem Kiesweg, der sich durch die hohen Bäume hindurchschlängelt, angespannt verweilt und in die gespenstisch anmutende Stille hineinlauscht. Aber nichts ist zu vernehmen. Als sie aber zum Haus wieder zurückwill, zuckt sie erneut zusammen: Da, schon wieder das hohe, durchdringende Kichern wie von Kinderstimmen. Es klingt, als seien es mehrere. Wie gemeine Sinustöne schwirren sie durch die Luft.

Als Tamara ungläubig aufblickt, traut sie ihren Augen nicht: Da oben in einer der kahlen uralten Eichen sieht sie auf einmal einen seltsam hässlichen Jungen in abgewetzten Klamotten auf einem Ast dahocken. Und dort, unweit von diesem etwas unterhalb kauert noch einer im Geäst, der praktisch genauso aussieht wie der andere, wie sie bemerkt.
„Wohin des Wegs, Tamara?“, hört sie plötzlich Jemanden in Ihrem Rücken rufen. Und als sie sich erschrocken umwendet, sieht Tamara einen dritten Jungen mit identischem Aussehen da oben in einer anderen Eiche kauern. Alle drei sind etwa so groß wie Kinder, erscheinen jedoch absonderlich alterslos. Wie Kobolde, die sich einen widerwärtigen Jux daraus machen, dass sie sich zum Verwechseln ähnlichsehen.

„Was macht ihr da oben, verdammt?“, ruft Tamara wutentbrannt. „Kommt sofort da runter und zieht Leine. Das ist ein Privatgrundstück, hört ihr? Ihr habt sie doch nicht alle!“
Die Drei in den Bäumen kichern und zwinkern sich gegenseitig zu. Einer klopft sich vor Lachen sogar schadenfroh auf seine ausgemergelten Schenkel.
„Nun, eigentlich wollten wir dir was zeigen, Tamara“, krächzt einer von ihnen.
„Ich glaube, das solltest du dir mal anschauen,“ ergänzt der Zweite.
„Sieh dich nur um, Tamara. Die Vorstellung hat bereits begonnen“, ruft ihr der Dritte zu und deutet mit seinem hageren Finger zum Haus hinüber. „Erinnerst du dich …?“

Noch bevor Tamara aber reagieren kann, wird sie mit einem Mal von Klavierspiel abgelenkt, das von irgendwoher zu ihr herübertönt. Doch ein richtiges Klavierspiel ist es eigentlich nicht, wie sie rasch bemerkt, sondern eher ein furchtbar dilettantisches, ruckartiges Tonleiterüben, das selbst aus der Entfernung noch elendiglich in den Ohren klingelt.

Völlig verstört wendet sich Tamara zu ihrer Landvilla hin um und kommt sich urplötzlich vor wie in einem düsteren Familienfilm aus längst vergangener Zeit: Denn auf einmal sieht sie sich da oben im ersten Stock durch die weit geöffnete, doppelflügelige Balkontüre als Neunjährige am Klavier dahocken, die wie ein Häufchen Elend die C-Dur-Tonleiter heulend und holprig zu Tode malträtiert.
„Mein Gott, du bringst mich noch zur Verzweiflung“, ruft ihre Mutter, die mit wütender Miene neben ihr auf einem Stuhl hockt und ihrer Tochter immer wieder mit einem langen Holzstöckchen gemein auf die Finger klopft.

Entsetzt schließt Tamara die Augen und erinnert sich spontan noch genau an jenen Tag dieser widerlichen Szene: Es ist Spätsommer und noch angenehm warm draußen. Die Vögel zwitschern munter im Park, doch in ihrem kindlichen Inneren wirkt alles furchtbar kalt und trostlos. Unten auf der großen Terrasse muss das Dienstmädchen gerade den Tisch zum Nachmittagskaffee decken, während sie oben im ersten Stock von ihrer Mutter gnadenlos zur Schnecke gemacht wird. Tamara wagt nicht hinzuschauen.

Die großzügige Landvilla war ursprünglich Tamaras Elternhaus gewesen, in dem sie auch aufgewachsen war. Ihr Vater, ein Großunternehmer der Schwermetallindustrie, hatte sich das ausgedehnte Gelände einige Jahre nach dem zweiten Weltkrieg für einen Spottpreis unter den Nagel gerissen und sich und seiner Familie großkotzig dieses Luxusanwesen hier hingeknallt, nachdem es ihm nur unter Einsatz der gewieftesten Anwälte doch noch gelungen war, endlich entnazifiziert zu werden. Also durfte er als unbescholtener Mann nun frohen Muts auch wieder seinen Geschäften nachgehen und vom deutschen Wirtschaftswunder profitieren, das das Land im Eiltempo wieder auf Vordermann brachte und neu erblühen ließ.

Seit sie denken kann, hängt Tamara an ihrem Elternhaus: sie kann sich nicht vorstellen, irgendwo anders zu wohnen. Ihr Vater hatte es ihr kurz vor seinem Tode vermacht – es war sein letzter Liebesbeweis. Und natürlich hatte sie ihre geliebte Landvilla dann auch mit in ihre Ehe gebracht, in der sie bis heute mit Rainer lebt. Glücklich und zufrieden, wie man so schön sagt, wenn es um die Ehe geht.

Obwohl es da auch eine überaus finstere Geschichte in ihrem Leben gab, die sich allerdings nicht im Haus, sondern im Park ihres Anwesens, genauer gesagt am Swimmingpool ereignet hatte. Das ist allerdings nun schon 35 Jahre her. Und dennoch lastet diese Geschichte immer noch auf ihr – kein Wunder, schließlich ist sie an dieser ja auch nicht ganz unschuldig. Aber glücklicherweise weiß keiner von dem Vorfall. Nur Tamara allein. Es gab keinen Zeugen. Folglich konnte auch niemand wissen, was wirklich am Pool geschehen war.

„Ich will nicht mehr. Ich hasse es!“, hört Tamara sich urplötzlich oben im ersten Stock aufschreien. Und als sie konsterniert zum Haus hinüberblickt, sieht sie sich dort vom Klavier aufspringen und laut weinend aus ihrem Zimmer fliehen. Ihre Mutter aber bleibt einen Moment lang sitzen und schaut ins Leere. Dann aber springt sie wie eine Furie auf, wirft, laut fluchend, das Holzstöckchen in hohem Bogen aus dem Fenster und verlässt ebenfalls Tamaras Kinderzimmer, während diese unten plötzlich auf die Terrasse herausgestürmt kommt und dem völlig überforderten und vor ihr zurückweichenden Dienstmädchen aufheulend am Rockzipfel kleben bleibt. Tamara unten im Park schwankt.

„Willst du dich nicht setzen?“, wispert einer der Knaben, der auf einmal direkt neben Tamara steht und ihr aufmerksam einen Stuhl anbietet, den er extra für sie ins Gras gestellt hat.
„Aber ja doch“, murmelt Tamara abwesend, die von sich da oben auf der Terrasse so tief getroffen scheint, dass sie sich dankbar niedersetzt, um nicht zu kollabieren. Fassungslos und bleichgesichtig hockt sie da und beobachtet sich dabei, wie sie sich als verzweifeltes Kind da am Körper des völlig hilflosen Dienstmädchens festkrallt – einsamer hat sie sich in ihrem Leben wohl nie gefühlt.

Mit einem Mal scheint der Film zu springen: denn jetzt sitzt sie mit ihrer Mutter Minuten später auf einmal beim Nachmittagskaffee. Unter tiefblauer Markise bei tiefstehender Spätsommersonne. Das Hausmädchen hat ihr gerade zum Trost ein extra großes Stück Kirschsahnetorte und einen großen Becher Kathreiner‘s Malzkaffe mit viel Milch serviert. Aber auch das scheint die Neunjährige nicht im Geringsten aufzuheitern. Bleichgesichtig und wie abwesend sitzt sie da und löffelt mit vom Weinen stark geröteten Augen teilnahmslos den Kuchen in sich hinein. Ihre Mutter hingegen tut so, als wäre überhaupt nichts vorgefallen und trinkt von ihrem Tee mit Sahne.

„Na, morgen Nachmittag machen wir das Ganze mal andersrum, Tamara“, sagt die Mutter auf einmal völlig unvermittelt. „Du wirst sehen, das wird dir Abwechslung und Spaß bringen.“
Tamara hat sich gerade einen Bissen Sahnetorte in den Mund geschoben, hört auf zu kauen und starrt ihre Mutter mit halboffenem Munde an.
„Nun iss deinen Kuchen erstmal, bevor du antwortest. Mit vollem Mund spricht man nicht, das weißt du doch, Tamara. Aber wie auch immer: Morgen fangen wir gleich mit etwas Schönem an, statt mit diesen dürren Tonleitern. Am besten mit dem fröhlichen Landmann von Schumann, den kannst du doch mittlerweile so einigermaßen. Und denke bitte daran, dass du am Anfang mit der rechten Hand nicht zu laut spielst, die Melodie liegt in der linken, aber das weißt du ja. Und wenn du den Landmann dann noch ein bisschen weiterübst, kannst du diesen ja auch Papi und unseren Gästen zu seinem Geburtstag in zweieinhalb Monaten vorspielen. Klavierspielen gehört in unseren Kreisen ganz einfach dazu, Tamara. Wenn ich mir beim Tennis neulich nicht so ekelhaft den Ringfinger verstaucht hätte, würde ich morgen, wenn wir bei Hultschs zur Einweihungsparty ihrer neuen Villa eingeladen sind, den vielen Gästen die Träumerei von Schumann zum Besten geben. Die haben nämlich einen Flügel dastehen, auf dem aber keiner spielt. Aber das geht nun leider nicht, die Träumerei kann ich erst mal vergessen – ein paar Wochen muss ich wohl noch pausieren. … Wirklich schade, dass du ein Einzelkind bist, Tamara, sonst könntest du mit deinen Geschwistern ja auch mal etwas Hausmusik machen, das stärkt das Familiengefühl …“

„Verzeihen Sie, Telefon, gnädige Frau.“ Das Dienstmädchen steht in der Terrassentüre.
„Wer ist es denn?“
„Keine Ahnung. Der Mann sagt, ich solle diskret sein, es sei absolut privat.“
„Lassen Sie die schlüpfrige Bemerkung, Luisa, ich bitte Sie“, ruft die Mutter empört, springt hektisch vom Korbsessel auf und eilt zum Telefon in die Wohnhalle, Tamara bleibt allein auf der Terrasse zurück. Zusammengekauert und zutiefst traurig verharrt die Neunjährige auf ihrem Stuhl und starrt in den Garten hinunter, während die Erwachsene, die ebenfalls zusammengekauert und zutiefst traurig da unten auf ihrem Stuhl im Gras hockt, sie dabei beobachtet wie ihr seelisches Spiegelbild.

„Und morgen nach unserem Tennismatch hast du doch noch hoffentlich etwas Zeit für mich, Max.“ hallt Tamaras Mutter Stimme auf einmal von der Wohnhalle auf die Terrasse hinaus. „Na fantastisch, ich kann es kaum erwarten, mein Lieber“, lacht diese drinnen unzweideutig auf. „Ich kann von deinen Aufschlägen einfach nicht genug kriegen, Max. Aber das weißt du ja, das macht die Sache nur noch schöner. Also bis morgen ...“

„Was sitzt du denn da wie ein Häufchen Elend herum, Tamara“, ruft ihr die Mutter gespreizt zu, als sie überraschend beschwingt auf die Terrasse zurückkommt. „Mach ein fröhliches Gesicht, mein Kind. Gleich geht’s in die Oper.“
Tamara reagiert nicht.
„Was ist, freust du dich denn nicht? Die vornehme Dame, die bei den Opernpremieren immer neben mir sitzt, hat vorhin angerufen. Ihr Mann sei krank, hat sie mich wissen lassen, sie käme heute Abend allein zur Premiere der Zauberflöte. Ob ich nicht Verwendung für dessen Karte hätte, hat sie mich gefragt. Da habe ich selbstredend sofort an dich gedacht, mein Kind. Immerhin solltest du beizeiten lernen, dich mit der Oper vertraut zu machen. Das gehört für unsereins einfach dazu, hörst du? Dieses Privileg haben nur wenige. Wer bitte kann sich denn heutzutage schon ein Premierenabonnement leisten? Aber was soll’s? Die Welt der Oper ist eben nur wenigen vorbehalten. Ein Leben ohne Musik ist ein Irrtum, sagt Nietzsche. Aber den kannst du ja noch gar nicht kennen, der war nämlich ein Philosoph und hat Richard Wagner sehr verehrt. Und nächstes Jahr wirst du Papa und mich zu den Wagnerfestspielen nach Bayreuth begleiten. Da gibt es in den Pausen leckere fränkische Bratwürste frisch vom Holzkohlengrill. Und die Pausen sind lang in Bayreuth, meine Kleine, da muss deine Mutter auch schon mal Gespräche über Wagner führen. Deshalb ist es nur von Vorteil, vorher den Text der Oper schon mal gelesen zu haben, denn dann kann man der Sache besser folgen und muss sich nachher bei den Gesprächen im Festspielrestaurant auch nicht unnötig blamieren. Wagner war 19. Jahrhundert. Und Mozart 18. Jahrhundert, das solltest du schon mal im Kopf behalten. Und die Zauberflöte ist die meistgespielte Oper überhaupt, auch das solltest du nicht vergessen. Mit dieser heute zu beginnen, ist also schon mal nicht schlecht. An der Zauberflöte wirst du dein Leben lang nicht vorbeikommen, Tamara. Die handelt von einer furchtbar bösen Frau, der Königin der Nacht, die ihre Tochter Pamina aus Rachegründen zur Mörderin machen will. Diese soll ihren Erzfeind Sarastro, der die Sonne anbetet, nämlich mit einem Dolch, den die Mutter ihr heimlich zusteckt, erstechen. Am Ende aber gewinnt Sarastro und Pamina darf einen Prinzen heiraten. Und einen solchen wirst du später sicher auch einmal heiraten, damit du gut versorgt bist, wenn Rainer und ich nicht mehr sind. Man muss die Männer nehmen, wie sie sind, Tamara, das wirst du noch frühzeitig genug erfahren. Und auch eine gute Partie hat schließlich noch niemandem geschadet …“
„Und Papa?“ Tamara schaut ihre Mutter zweifelnd an.
„Papa ist schon in der Stadt und arbeitet, meine Kleine. Aber natürlich wird er mit uns heute Abend in die Zauberflöte gehen, was denkst du denn? Stell dir nur vor, ich ginge mit dir allein, das würde vielleicht ein Getuschel und Geraune im Zuschauerraum geben. Ich hasse Trennungsgerüchte … so einfach ist das!“

Kapitel 8, 9 und 10

8

Filmriss – so überraschend der abgründige Familienfilm aus längst vergangenen Zeiten eingesetzt hatte, so abrupt ist er nun auch zu Ende. Jäh in die Bilderwelten ihrer Vergangenheit abgerutscht, sitzt Tamara ganz in sich versunken inmitten ihres weitläufigen Parkgeländes einsam und allein auf dem Theaterstuhl, den ihr einer der drei Knaben für die „Vorstellung“ bereitgestellt hatte. Dass es um sie herum mittlerweile stockfinster geworden ist, scheint sie nicht zu bemerken – die automatische Außenbeleuchtung des Parks hat sich längst ausgeschaltet.

Und schon wieder klingt die Zauberflöte Tamara in den Ohren. Angewidert schrickt sie auf und blickt sich fassungslos um: Es ist das Finale der Oper, das von den drei Knaben eingeleitet wird. Und diese erblickt sie nun auch zwischen den kahlen Büschen dort hinten: In imaginäres Licht getaucht, schreitet einer hinter dem anderen her, ganz im Rhythmus der Musik wie bei einer Art Prozession. Ein jeder hochkonzentriert seinem Gesang hingegeben, ohne jegliche Orchesterbegleitung – Tamara hat den Eindruck, als würden Krähen singen:

„Bald prangt, den Morgen zu verkünden,
die Sonn’ auf gold’ner Bahn –
bald soll der Aberglaube schwinden,
bald siegt der weise Mann!“

Ein Ziel aber scheint der absurde Zug zu haben, denn offenbar wollen die Drei zum Swimmingpool, der nebst einem Badehäuschen mit Bar und Musik im hinteren Parkbereich des Anwesens liegt. Der erste der widerlichen Kerle trägt nämlich eine quietschgelbe Schwimmente unterm Arm. Und dem zweiten, der ihm durch die Büsche folgt, hängt eine grasgrüne Taucherbrille mit überlangem Schnorchel um den Hals, mit dem er sich immer wieder in den Zweigen furchtbar verheddert und damit den dritten, dem letzten in der grotesken Reihe, der zwei Schwimmflossen auf der Schulter trägt, immer wieder übel aus dem Takt bringt. Unwillkürlich folgt Tamara den Erscheinungen, dem Irrsinn muss sie auf den Grund gehen.

„O holde Ruhe, steig hernieder,
kehr in der Menschen Herzen wieder;
dann ist die Erd’ ein Himmelreich,
und Sterbliche den Göttern gleich …“

Irritiert halten die drei Widerlinge auf einmal inne und sehen sich argwöhnisch um. Und als sie Tamara erblicken, die versehentlich auf einen Zweig getreten ist, stieben sie erschrocken auseinander, werfen Schwimmente, Taucherbrille und Schwimmflossen von sich, und fliehen wie menschenscheue Wesen hektisch die Bäume hinauf.

Doch seht, Verzweiflung quält Paminen!“, ruft der Erste den anderen währenddessen zu.
„Wo ist sie denn?“, erwidern diese, verharren erschrocken in den Ästen und blicken sich skeptisch um, wobei sie so tun, als würden sie Tamara nicht bemerken.
„Sie ist von Sinnen!“, krächzt der erste aus Leibeskräften und deutet mit seinem Knochenfinger dreist auf Tamara, die fassungslos dasteht, und nicht weiß, wie ihr geschieht. Vor Schreck erstarren die Drei da oben in den Bäumen zu Salzsäulen, spähen mit ihren giftgrünen Augen zu Tamara hinunter, und stimmen ein herzerbärmliches Lamento an. Tamara läuft es eiskalt über den Rücken.

„Sie, quält verschmähter Liebe Leiden
laßt uns der Armen Trost bereiten! –
Führwahr ihr Schicksal geht uns nah!“

Und ehe sich’s Tamara versieht, sind die drei Knaben da oben im Geäst plötzlich verschwunden – so als hätten sich diese in den düster dräuenden Wolken, die am Nachthimmel aufgezogen sind, aufgelöst. Ihr gemeines Kichern aber hängt noch eine Weile in der eiseskalten Luft.

9

Plötzlich bemerkt Tamara mattes Licht, das durch den Park zu ihr herüberschimmert. Es kommt vom Swimmingpool hinten im Park. Haben die drei Knaben jetzt etwa doch noch den Wellnessbereich gekapert? Tamara lacht ungläubig auf und erschrickt vor ihrem Galgenhumor. Augenblicklich nimmt sie sich ein Herz und pirscht sich im Schutz des immer dichter werdenden Buschwerks, das schließlich nur mehr aus blauem Kriech-Wacholder und Koniferen besteht, so leise wie möglich an den Poolbereich heran. Und als sie an diesen endlich nahe genug herangekommen ist, biegt sie vorsichtig einige Zweige des dichten Astwerks auseinander, um einen Blick auf das Poolgelände zu erheischen.

Tamara stockt der Atem: Denn mit einem Mal sieht sie sich dort als 31-Jährige bleichgesichtig auf einem Liegestuhl dahocken, fröstelnd eingepackt in einen giftgrünen Bademantel und wie abwesend vor sich hin stierend. Direkt ihr vis-à-vis sitzt Lothar in einem Korbsessel, ihr damaliger Superfavorit. In Badeshorts und mit über die Schultern geworfenem Handtuch redet er ruhig und gefasst auf sie ein.

Zu Tode erschrocken lässt Tamara von den Zweigen ab, die augenblicklich in ihre ursprüngliche Position zurückschnellen. Nein, keine Sekunde länger kann sie diese Horrorszene mitansehen, weiß sie doch genau, was gleich passieren wird. Fassungslos hält sie inne: Verdammt, wo kommt dieser Film bloß her? An jenem Abend war sie hier auf ihrem Anwesen mit Lothar doch völlig allein gewesen. Da war niemand sonst, da ist sie sich nach wie vor absolut sicher. Wer also sollte sie beide da heimlich gefilmt haben? Und außerdem, wer wäre vor 35 Jahren dazu in der Lage gewesen, in der Abenddämmerung so überaus scharfe Bilder zu machen? Mit welchem Equipment denn bitte? Aber trotz allem: Irgendjemand will sich offenbar nun an ihr rächen. Wer aber sollte ihr dunkles Geheimnis nach all der Zeit jetzt doch noch enthüllt haben?

Tamara pocht das Herz bis zum Halse. Unwillkürlich biegt sie die Zweige wieder beiseite und schaut ungläubig zum Pool hinüber. So als wäre sie selbst die ominöse dritte Person, die das Geschehen heimlich beobachtet: Seltsam gefasst redet Lothar dort noch immer auf sie ein. Und sie schweigt beharrlich und macht ein Gesicht, als fasse sie nicht, was sie da gerade von ihm vernimmt. Was Lothar ihr am Pool da zuraunt, kann Tamara im Gebüsch zwar nicht hören, dennoch aber erinnert sie sich noch haargenau an jedes seiner Worte.

Lothar hatte sie an jenem Abend fast um den Verstand gebracht. Denn statt eines Heiratsantrages, den sie eigentlich von ihm erwartet hatte, hatte er ihr, wenn auch nach langer und verblüffend ruhiger Vorrede, Knall auf Fall den Laufpass gegeben – wie aus heiterem Himmel. Tamara hatte der Schlag getroffen. Alles hatte sie von Lothar erwartet, nur das nicht. „Wir passen einfach nicht zusammen, das ist mir leider erst jetzt klar geworden“, hatte er ihr mit befremdlich gefasster Miene erklärt und ihr dabei auch noch tief in die Augen gesehen – sie dachte, es würde sie zerreißen.

Unbändiger Hass war in ihr aufgestiegen. Sie wollte sich an Lothar rächen – diesen Impuls hatte sie jedenfalls sofort verspürt. Schließlich hatte der ihre Zukunftsplanung mit einem Schlag zunichte gemacht. Dabei hatte sie doch alles so perfekt eingefädelt und exakt arrangiert, dass im Grunde nichts schiefgehen konnte.

Lothar war damals ein gutaussehender Mann Anfang 40, stinkreich, und er spielte Tennis. Quasi aus dem Nichts hatte er sich ein riesiges Linoleumwerk aufgebaut und verdiente sich mit dieser Auslegware eine goldene Nase. Auch ein Sportcoupé hatte er ihr versprochen. Und mit ihren 31 Jahren war es nun wirklich an der Zeit, endlich an die Zukunft zu denken, sonst galt man ja schon bald als alte Jungfer. Und so war Lothar schlichtweg die ideale Partie für sie, vor allem auch deshalb, weil er ihr weiterhin auch all den Luxus bieten konnte, den sie von Hause aus ja schon immer gewohnt war. Und Lother liebte die Oper, damit hatte er ihrer Mutter Herz im Handumdrehen gewonnen. Alles schien also im Griff.

Tamara hält den Atem an: Plötzlich sieht sie Lothar entschieden von seinem Korbsessel aufstehen, weil er offenbar der Überzeugung ist, ihr alles gesagt zu haben: Es ist aus – ein für alle Mal! Mit beiden Händen an den Enden seines ihm um den Hals hängenden Handtuchs schaut er sichtbar erleichtert zu Tamara hinunter, die nach wie vor wie der Schatten ihrer selbst auf ihrer Liege hockt und Löcher in die Luft starrt.
„Wenn du erlaubst, schwimme ich noch ein paar Runden, bevor ich gehe“, sagt er betont zurückhaltend. „Ich muss nämlich noch ins Büro und will mich vorher noch ein bisschen aufmöbeln, wenn du nichts dagegen hast. “
Tamara nickt abwesend, lässt sich auf ihre Liege zurückfallen, und schaltet demonstrativ das Kofferradio neben ihr auf dem Boden an, während Lothar mit einem Hechtsprung ins Wasser des Swimmingpools eintaucht und urplötzlich die Zauberflöte aus dem Radio erklingt.
„Mein Gott, die Zauberflöte!“ ruft Lothar begeistert aus dem Wasser. „Das muss die Direktübertragung aus Salzburg sein. Bitte stell die Musik doch lauter, wenn es dir nichts ausmacht. Danke …!“

Im Radio läuft gerade der zweite Akt. Und zwar die Szene, in der der Mohr Monostatos die in einer rosenumrankten Laube schlafende Pamina heimlich beobachtet und durch ihren aufreizenden Anblick derart in Wallung gerät, dass er ihr unverzüglich an die Wäsche gehen will. Und als er schließlich überaus erhitzt und bis über die Ohren erregt „Alles fühlt der Liebe Freuden, schnäbelt, tändelt, herzet, küßt …“, zu singen beginnt, späht Tamara hasserfüllt zu Lothar hinüber, der gerade ins Rückenschwimmen übergegangen ist. Von wegen „der Liebe Freuden“, schießt es ihr durch den Kopf. Der herzlos-kalte Typ dort hat ihr so plötzlich und unerwartet alle Lebensfreude genommen, dass sie ihre Zukunft mit einem Mal nur mehr grau und hoffnungslos vor sich daliegen sieht, als blicke sie in ein tiefes schwarzes Loch. Doch damit wird Lothar bei ihr nicht ungeschoren davonkommen – mein Gott, der wird sich noch wundern!

Und während völlig unerwartet die Königin der Nacht erscheint, Monostatos vertreibt und ihrer Tochter Pamina den Dolch zustecken will, mit dem sie ihren Erzfeind Sarastro um die Ecke bringen soll, springt Lothar athletisch vom Beckenrand ins Trockene hoch und beginnt zu bibbern. „Schon ganz schön kalt das Wasser“, ruft er Tamara zu und läuft los, um sich etwas aufzuwärmen. Doch schon nach wenigen Metern rutscht er mit seinen nassen Füßen höllisch auf dem glatten Steinboden aus, schlägt mit dem Kopf krachend gegen die Kante eines schweren Metalltischs, auf dem noch sein halbausgetrunkener Gin-Tonic steht, und stürzt schließlich jäh zu Boden nieder, wo er schließlich wie leblos liegenbleibt.

Tamara reagiert nicht. Sie will nicht. Regungslos liegt sie auf ihrer Liege, lässt Lothar aus halbgeschlossenen Lidern jedoch nicht aus den Augen: Jetzt soll der Mann da doch mal sehen, wer ihm beisteht. Und als dieser mit einem Mal aufstöhnt und bald heftige Schmerzensschreie von sich gibt, wobei ihm das Blut aus dem Schädel tritt, wendet sich Tamara angewidert ab und dreht den Ton lauter: Gerade hat die Königin der Nacht ihre Arie begonnen:

„Der Hölle Rache kocht in meinem Herzen,
Tod und Verzweiflung flammet um mich her …!“

Ja. Tamara will Rache. Soll der Mann doch verbluten. Rache ist süß!

Entsetzt lässt Tamara von der Szene ab und fällt wie besinnungslos ins Buschwerk zurück. Zusammengekauert wie ein verängstigtes Kind, liegt sie da auf dem Erdboden, allerdings mit gespitzten Ohren, als erwarte sie jeden Augenblick Schritte oder Stimmen von Polizisten, die kämen, um sie in Handschellen zu legen und auf der Stelle abzuführen.

Schließlich hatte sie damals vor den Behörden schamlos gelogen: Sie hätte in der Sauna gesessen und von Lothars Unfall am Pool draußen nicht das Geringste mitbekommen, hatte sie unter Eidesstatt ausgesagt. Zudem hatte sie tunlichst verschwiegen, dass ihr Lothar kurz vorher am Pool für immer den Laufpass gegeben hatte. Und dabei hatte sie wirklich Schwein, denn auch er selbst hatte offenbar niemandem vorher von seiner Absicht, sich von ihr trennen zu wollen, erzählt. Folglich war ihr auch keinerlei Motiv zu unterstellen – Tamara war ungeschoren davongekommen.

„Wenn du glaubst, ungeschoren davonzukommen, Tamara, dann irrst du dich. Leider musste ich das Ganze mitansehen, ohne eingreifen zu können. Ich musste ja singen …!“

Tamara gefriert zu Eis – es ist die Stimme der Königin der Nacht, die von irgendwoher zu ihr herüberflirrt. Wie ertappt kriecht Tamara hinter den Büschen hervor, sieht sich benommen um und stockt, als sie die nächtliche Königin mit einem Mal dort hinten mitten auf freiem, tiefverschneitem und mondbeschienenem Gelände dastehen sieht, das sich im bläulichen Dunst, der sich über diesem ausbreitet, in der Ferne im Ungefähren zu verlieren scheint. Völlig konfus blickt sich Tamara um: die Poollandschaft hat sich urplötzlich in Luft aufgelöst.

„Nun komm Tamara. Wenn du dich beeilst, bekommst du wenigstens noch den Schlussapplaus zur Zauberflöte mit“, hört sie die Königin, die sich auch schon umwendet und von ihr entfernt.
„Ach ja richtig“, erwidert Tamara tonlos und stapft los, der Königin hinterher. Diese aber entfernt sich zusehends im Nachtdunst der Ferne, gibt Tamara allerdings die Richtung vor.

Es klirrt vor Kälte: Gott sei Dank trägt sie ihren Nerz, der sie wenigstens etwas wärmt. Ermattet schlägt sie den Kragen hoch, weit wird sie es wohl nicht mehr schaffen, sie ist hundemüde.

10

Wie aus dem Nichts erklingt urplötzlich das Ende der Zauberflöte:

SARASTRO
Die Strahlen der Sonne
vertreiben die Nacht,
zernichten der Heuchler
erschlichene Macht!

Völlig überraschend findet sich Tamara mit einem Mal auf der Hinterbühne der Zauberflötenvorstellung im Opernhaus der Stadt wieder. Vor ihr die Bau- und Versatzteile des Bühnenbilds, die ihr die Sicht auf die Hauptbühne vorne versperren – Tamara kann den letzten Minuten des Bühnengeschehens lediglich akustisch folgen.

CHOR
Heil sei euch Geweihten!
Ihr dränget durch Nacht!
Dank! sei dir Osiris!
Dank! dir Isis gebracht!
Es siegte die Stärke
und krönet zum Lohn
die Schönheit und Weisheit
mit ewiger Kron’!

Und auch der heftige Beifall, der nun vorne im Zuschauerraum losbricht, teilt sich Tamara auf der Hinterbühne nur sehr bedingt mit, da dieser durch den mittlerweile herabgefallenen Hauptvorhang hier hinten nur äußerst gedämpft wahrzunehmen ist. Tamara hat den Eindruck, als wäre das Publikum, das völlig aus dem Häuschen scheint, meilenweit von ihr entfernt. Mein Gott, wie soll sie jetzt noch rechtzeitig nach vorne ins Foyer oder zu den Garderoben gelangen, um sich dort all ihren Freunden und Bekannten zu präsentieren? Hals über Kopf weicht sie nach rechts zu einer der Seitenbühnen aus, um vielleicht von dort aus in den vorderen Teil des Gebäudes zu gelangen, bevor alles zu spät ist.

Doch der Weg über die Seitenbühne entpuppt sich rasch als Spießrutenlauf, quillt diese doch vor lauter Sängern und Statisten, die dort in Kostüm und Maske dicht gedrängt auf ihren Auftritt zum Applaus warten, förmlich über. Verzweifelt drängt sich Tamara durch die Masse der Leute nach vorne Richtung Zuschauerraum, als sie urplötzlich der Königin der Nacht gegenübersteht.
„Warten Sie hier, mein Kindchen“, sagt diese herablassend. „Auch Sie werden gleich ihren Applaus bekommen. Jetzt aber bin ich erst einmal an der Reihe ...“
Ehrfurchtgebietend wendet sich die Königin von Tamara ab und geht hoch erhobenen Hauptes auf die Bühne hinaus. Augenblicklich erhebt sich orkanartiger Beifall, der das gesamte Gebäude wie durch mächtigen Donnerhall fürchterlich erzittern lässt. Völlig verängstigt steht Tamara da und weiß nicht, wie ihr geschieht. Als mit einem Mal der Applaus überraschend verebbt und einen Augenblick lang unwirkliche Stille herrscht.

„Wertes Festpublikum, guten Abend. Mir als Intendanten der Oper wird heute Abend eine ganz besondere Ehre zuteil. Denn nach dieser wahrhaft großartigen Aufführung, die ja auch live im Radio übertragen wurde, gilt es zunächst einmal vor allem Ihnen, unserem Publikum, von Herzen für die unbedingte Treue zu danken, die Sie unserem Haus entgegenbringen. Sind Sie es doch, die die Oper in diesen finsteren Zeiten am Leben erhalten und sich auch nicht scheuen, für diese durch Dick und Dünn gehen. So wie eine wunderbare Frau aus unserer Mitte, die zudem auch eine große Gönnerin unserer Oper ist. Ihr ist es nämlich trotz widrigster Umstände doch noch gelungen, heute Abend hier zu uns auf die Bühne zu kommen. Natürlich wollte die Teuerste von Anfang an mit uns sein, aber der schwere Schneesturm, der heute am Spätnachmittag auf dem Land tobte, hinderte sie daran, rechtzeitig zur Aufführung zu kommen. Doch nach einer wahren Odyssee hat sie es auf wundersame Weise und gleichsam in letzter Sekunde doch noch geschafft, mit uns diese großartige Zauberflötenvorstellung zu feiern. Applaus für unsere wunderbare Freundin Tamara, die für die Oper sterben würde ...“

Plötzlich fasst jemand Tamara an der Hand und zieht sie mitten auf die Bühne ins grelle Scheinwerferlicht hinaus. Frenetischer Applaus brandet auf. Tamara verbeugt sich wie in Trance – im sie heftig blendenden Licht der Scheinwerfer kann sie unten im Zuschauerraum jedoch niemanden sitzen sehen. Und als sie irritiert zur Seite blickt, um nachzuschauen, wer da ihre Hand hält, steht sie auf einmal der Königin der Nacht gegenüber, die ihr eiskalt und unbarmherzig in die Augen sieht. Augenblicklich geht Tamara in die Knie, als wolle sie sich vor dieser verbeugen. Dann aber bleibt ihr auch schon das Herz stehen und sie sinkt leblos zu Boden.

Ein paar Tage später wird Tamara zu Grabe getragen. Sie hätte ein entsetzliches Ende genommen, steht in den Boulevardblättern. Mitten in der Nacht wäre Sie auf ihrem Anwesen ins leere Schwimmbecken gefallen und hätte sich dabei auf der Stelle das Genick gebrochen. Alle Umstände würden auf einen schrecklichen Unfall hindeuten.

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