DEUTSCHLAND KRIEGT DIE KURVE NICHT
Teil 1: ÜBLE VORZEICHEN

„Manchmal denke ich, es wäre total
gut, an irgendwas glauben zu kön-
nen. An eine politische Idee, oder so.
Aber heute glaubt kaum wer noch
was.“ Sybille Berg
Die Krise, die Deutschland gegenwärtig fest im Griff hält, ist beileibe keine herkömmliche Wirtschaftskrise, die sich in die 250jährige Krisengeschichte des Kapitalismus so ohne Weiteres einreihen würde. Denn im Grunde betrifft diese nicht nur die Ökonomie des Landes – einschließlich der entsprechenden Kollateralschäden, sondern, weit dar-über hinaus, alle wesentlichen Bereiche der bundesdeutschen Lebenswirklichkeit: Von der spezifischen Art und Weise des gesellschaftlichen Zusammenlebens, dem Charakter und der Produktivität von Wirtschaft und Industrie und dem damit verbundenen Stellenwert der Arbeit, über die verschieden Bildungs- und Ausbildungssysteme wie Schulen, Handwerksbetriebe und Universitäten, bis hin zu den vorherrschenden Kommunikationsformen und dem Mediengebrauch im Lande. Bei allem aber spielt die tief-reichende Krise, in welche die mentale Verfasstheit der bundesrepublikanischen Gesellschaft geraten ist, offenbar eine zentrale Rolle. Eine Gesellschaft, der die soziale Kompetenz, der Gemeinschaftssinn abhandengekommen ist. Und damit die Widerstandsfähigkeit und Flexibilität, mit gravierenden, unerwartet auftretenden Problemen beson-nen und wirkungsstark umzugehen.
ALLGEMEINE ERSCHÖPFUNG
In diesem Zusammenhang verblüfft ein all diesen Lebensbereichen gemeinsamer Grundaspekt, der die wahre Dimension dieser gegenwärtigen Krise offenbart: Es ist eine allgemeine Erschöpfung, die allenthalben zu beobachten ist. Sie durchzieht die Gesellschaft wie ein bleierner Dunst, der sie auf eine eigentümliche Art und Weise lähmt und die Menschen wie abgekämpft erscheinen lässt. Eine subdepressive Mischung aus geistiger und seelischer Entkräftung, die das öffentliche Leben in Deutschland, das viel von seiner einstigen Vitalität und Produktivität eingebüßt hat, schwer beeinträchtigt.
Dabei äußern sich die Symptome dieses gesellschaftlichen Erschöpfungssyndroms im Einzelfall natürlich ganz unterschiedlich und individuell. Und dennoch: Viele Zeitgenossen wirken, als könnten sie angesichts des Höllentempos und all der anderen Probleme, die das Leben gegenwärtig so mit sich bringt, kaum mehr mithalten, weil sie heillos überfordert wären – verbissen und unzufrieden sich durch den Alltag kämpfend. Andere wiederum machen mittlerweile keinen Hehl mehr daraus, bei dem ganzen Scheiß einfach nicht mehr mitmachen zu wollen, weil sie die Schnauze gestrichen voll hätten und fertig wären mit dem System – willkommenes Futter für Radikale und Menschenverächter, die den demokratischen Staat abräumen und den Einzelnen mundtot machen wollen. Wieder andere wirken erschreckender Weise schon in jüngeren Jahren seelisch so gebrechlich, als wären sie faktisch am Ende, ohne jegliche Energie und wie ausgebrannt – hilflos erscheinende Gestalten im Fangbecken eines offenbar sie gnadenlos erdrückenden Lebens. Und selbst Betuchtere mit Knete in der Tasche und dem entsprechenden Outfit, die sich mit den gegebenen Lebensbedingungen auf den ersten Blick völlig konform zeigen (was ja auch nicht wei-ter verwunderlich ist), fahren rasch aus der Haut, wenn ihnen irgendetwas nicht in den Kram passt – und dies auf eine so überraschende, weil extrem vulgäre Art und Weise, die offenlegt, wie unzufrieden, gereizt, dünnhäutig und verroht auch diese Menschen unter ihrer angepassten und gestrafften Maske geworden sind.
Angesichts dieser hochbrisanten gesellschaftlichen Gemengelage, die von tiefer Unzufriedenheit und extremer Gereiztheit geprägt wird, kann man sich lebhaft vorstellen, was sich an den Kristallisationsorten des öffentlichen Lebens wie beispielsweise den Supermarktkassen, an denen der Gemütszustand einer Gesellschaft brennspiegelhaft zum Ausdruck kommt, gegenwärtig so abspielt: Ein unwürdiges und absurdes, an unfreiwilliger Komik nicht zu überbietendes Geschehen aus Ignoranz, Dumpfheit, Hyste-rie, Ungeduld, Gereiztheit, Aggressivität und Vulgarität – so, wenn beispielsweise eine aufgestylte junge Frau in Leggings und Kunstpelz-Jäckchen ohne ersichtlichen Grund eine Kassiererin anblafft: „Geht’s vielleicht auch etwas schneller, alte Fotze!“ Oder wenn ein etwa vierzig Jahre alter Vater eine ältere Dame direkt hinter ihm in der Schlange lauthals zusammenscheißt, weil diese versehentlich einen Joghurtbecher zu Boden fallen lässt, der platzt und seine brandneuen Budapester Schuhe mit ein paar Klecksen beschmutzt, während sein fünfjähriger Sohn neben ihm völlig unbeeindruckt mit seinem iPad beschäftigt ist, ohne auch nur für einen Moment aufzuschauen.
„Vielen bringt das Einkaufen einfach keinen Spaß mehr“, klagt der REWE-Chef Lionel Souque in einem SPIEGEL-Interview und denkt wohl schon daran, der Innenausstattung seiner Filialen, vor allem aber dem Kassenbereich ein luftigeres und fröhlicheres Outfit zu verpassen, um die Stimmung seiner Kunden auf Vordermann zu bringen. Doch das kann der gute Mann von REWE vergessen. Denn dem Innenleben seiner Kunden wieder zu etwas mehr Gelassenheit und Heiterkeit zu verhelfen, wird auch ihm nicht gelingen, denn die Menschen stecken fest. Auf unheilvolle Art und Weise in sich selbst gefangen – Wohl-standsautisten ihres Zeichens.
Szenen wie die aus dem Supermarkt machen demoskopische Untersuchungen „Zur aktuellen Stimmungslage der Nation“ letztlich überflüssig – man muss sich nur einen Moment Zeit nehmen und hinschauen. Denn dann sieht man, wie verbissen und ignorant die Menschen mittlerweile an ihren Zeitgenossen vorbeileben. Es hat sogar den Anschein, als wollten sie einfach nichts mehr miteinander zu tun haben. ICH heißt es heutzutage – WIR war gestern. Aus vielen Zeitgenossen sind monadische, mental-verbiesterte Ichkrüppel geworden, denen der Gemeinschaftssinn abhandengekommen ist. Eine Veranlagung, dem der Mensch sein erfolgreiches Überleben auf diesem Globus zu verdanken hat – mithilfe von Kooperation und Solidarität. Sollten diese humanen Qualitäten gänzlich versiegen, wie es gegenwärtig den Anschein hat, wird es sich gesellschaftlich so verhalten wie mit dem Golfstrom – es wird bitter-kalt.
EXZESSIVER KONSUM – DER LETZTE GOTT
Gäbe es, aus welchen Gründen auch immer, keine Möglichkeit mehr, der schnöden Ablenkung und blödsinnigen Zerstreuung halber wie der Teufel zu konsumieren, wie dies viele Bundesbürger immer noch tun – sei es nun in Echtzeit, oder als hochfrequentiertes Onlinegeschäft, die Fliehkräfte der Geschichte würden das ermüdete und brüchige Geflecht des bundesdeutschen Kollektivs auf der Stelle entzweireißen und dessen Restbestandteile in die Sphären der allgemeinen Bedeutungslosigkeit auseinanderdriften lassen. Ist der exzessive Konsum doch wohl das Einzige, was die bundesdeutsche Gesellschaft gegenwärtig noch einigermaßen zusammenhält, obwohl die Masse der Menschen sich völlig gegenteilig verhält. Und das nicht nur im Supermarkt, sondern auch in der U-Bahn oder oben auf den Straßen oder in den Cafés. Gehetzte und Getriebene, die die Zeitgenossen um sich herum nicht nur völlig zu ignorieren scheinen, sondern praktisch nicht mehr wahrnehmen – Erblindete im Geiste.
Und körperlich Geschwächte, die sich wider besseres Wis-sen einer sie schleichend vergiftenden Lebensmittelin-dustrie in die Arme werfen und gierig deren aufgepeppte Produkte in sich hineinfressen – natürlich aus dem Supermarkt zum Schnäppchenpreis. Denn in Deutschland rangiert der Preis von Lebensmitteln bekanntlich weit vor deren Gesundheit, was wenig überraschend sein dürfte, ist der Disccounter doch eine typisch deutsche Erfindung der Brüder Karl und Theo Albrecht, die 1962 in Essen ihren ersten Billiglebensmittelmarkt unter der Marke Aldi eröffneten. Ein Phänomen, das belegt, wie wenig die Menschen in diesem Land auf qualitätsvolles und gesundes Essen Wert legen. Ganz im Gegenteil zu ihren südeuropäischen Nach-barn zum Beispiel, die angesichts der Junk-Food-Ramschangebote der bundesrepublikanischen Discounter vermutlich nicht nur die Nase rümpfen, sondern stante pe-de auf die Barrikaden gehen dürften. Doch dass man sich auch für wenig Geld vernünftig ernähren kann, scheint die Deutschen nicht zu interessieren. Denn bei all dem Alltags-stress bleibt ihnen angeblich keine Zeit mehr, sich auch noch stundenlang in die Küche zu stellen und ausgefeilte Rezepte auszuprobieren.
Doch dieses Argument entspricht nun wahrlich nicht den Tatsachen, denn schließlich hat der Durchschnittsdeutsche beim Thema Kochen so spätestens mit Ende dreißig/Anfang vierzig einen gehörigen Hau weg: so ist er einerseits dazu bereit, Unsummen für seine Küche und deren Einrichtung auf den Tisch zu blättern, weil sie für ihn warum auch immer ein absolutes Prestigeobjekt ist. Andererseits aber nimmt er seine Luxusküche praktisch nie in Betrieb. Außer seine sündteure Mikrowelle, mit der er das aus dem Discounter zum Schnäppchenpreis erworbene Junkfood zum Erhitzen bringt, um es dann vor irgendeiner Kochshow im TV, das natürlich zur Grundausstattung seiner ultimativ gestylten Designerküche gehört, in sich hinein zu löffeln. Schizoider geht es wohl kaum. Eine Haltung, die für viele in Deutschland allerdings nachgerade typisch ist.
So gibt es Menschen, die ähnlich verwirrt erscheinen, wenn sie aus ihren Gärten jämmerliche Kiesflächen machen, damit Papi nicht mähen muss. Doch um sein schlechtes Gewissen zu besänftigen engagiert sich das Ehepaar jetzt für die bedrohten Bienen, weil es wenigstens den Nachbarn beweisen will, nun wirklich nichts mit den Naturverächtern gemein zu haben. Deshalb hockt das beflissene Ehepaar jedes Wochenende mit Papier und Bleistift bewaffnet nun in ihrem trostlosen Kiesallerlei auf alten und verbogenen Campingstühlen (Was noch funktioniert, sollte man nicht wegwerfen! will das engagierte Ehepaar damit den Vorbeikommenden signalisieren: Schont die Umwelt!), um die niedlichen Honigsammler während ihres Vorbeiflugs zu zählen – hochkonzentriert und so präzise wie möglich. Und dann, noch vor dem Abendbrot, um das sich ja die Ehefrau kümmert, werden die Daten des Tages vom Ehemann, der ja glücklicherweise nicht mähen muss, persönlich übers Internet ans örtliche Bürgeramt weiter-geleitet. Sollte das Ehepaar Glück haben, wird ihm aufgrund seiner Achtsamkeit und Naturliebe am Ende der Saison eine Urkunde vom Bürgermeister im Festzelt überreicht – jedenfalls arbeitet man darauf hin.

Bei der Erfassung der vorbeieilenden Bienen hält das gegen den Klimawandel ankämpfende Ehepaar die Fenster des Hauses natürlich geschlossen und die Jalousien vorsichtshalber heruntergelassen. Denn beim lauten, überaus beflissenen Zählen der Bienen könnten einige der possierlichen Tierchen ja derart in Stress geraten, dass sie sich un-ter Umständen panisch durch eine Fensterritze ins Haus flüchten könnten, wo sie sich dann möglicherweise in den Kissen des Ehebetts verstecken, um dort des Nachts aus Rache zuzustechen.
Es wird einem schwindelig, wenn man sich vorzustellen versucht, wie eng, zwanghaft und verschroben es in solch „beflissenen“ Köpfen zugeht. Und nicht auszudenken, welch unberechenbare Konsequenzen ein derart sinnentleertes Denken und verdorrtes Empfinden für das gesamtgesellschaftliche Klima und Zusammenleben mit sich bringen. Ohne dem Bürger zu nahetreten zu wollen: Aber aus dem einst so besonnenen, wachen und aufgeschlossenen Zeitgenossen ist ein Demokratie-Gefährder ersten Grades geworden: Ein klammheimlicher Staatsverächter, dessen verrohte Mentalität und unterschwelliges Aggressionspotential der Demokratie wirklich gefährlich werden könnte. Einer, der sich verbissen und stur vor jedweder Verantwortung drückt. Der sich ans Vorgestern klammert und jedwede Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse zu bekämpfen versucht. Geistige Deformation und seelische Leere sind die Insignien seiner neuen öden Wirklichkeit.
Motto:
Sybille Berg
Ein paar Leute suchen das Glück und lachen sich tot.
Debütroman.
ENDE TEIL 1