Peter Mussbach
EPIPHANIE 2.0
Erzählung
Peter Mussbach

EPIPHANIE 2.0

Erzählung

1

Irgendetwas ist im Busch – Oskars Sensoren schlagen Alarm. Augenblicklich hält er im Schutz eines völlig ausgebrannten Tanks inne und checkt kritisch die Umgebung; als hocherfahrenem, technisch perfekt ausgerüstetem Einzelkämpfer entgeht ihm so schnell kein Detail, das auf einen feindlichen Hinterhalt hinweisen würde. Und dennoch, selbst Oskar muss höllisch aufpassen, hier zwischen all den zerbombten Gebäuden und zerstörten Militärfahrzeugen im zermürbenden Straßenkampf nicht von irgendeinem Guerillakrieger, der sich hinter einem Mauervorsprung oder einer halbeingefallenen Fensteröffnung verschanzt hält, überrascht und kurzerhand niedergeschossen zu werden. Zudem kann er in der verdammten Senke, in der er gerade feststeckt, die Lage nicht wirklich beurteilen. Folglich wechselt er mit einem kühnen Satz die Position und springt mit vorgehaltenem Schnellfeuergewehr raubkatzenartig einen Schuttberg aus Mauerwerk empor, auf dem er sich oben angelangt, hinter einem großen Betonklotz in Deckung bringt, um sich einen Überblick über das total verwüstete Terrain zu verschaffen. Doch wohin er auch blickt, er kann keine unmittelbare Gefahr erkennen, die Luft scheint rein. Sichtlich erleichtert atmet er durch und klettert die künstliche Erhöhung wieder hinunter, um seine Patrouille weiter fortzusetzen.

Eine geschlagene Stunde lang irrt er nun schon durch die nicht enden wollende und hier und da noch brennende Ruinenlandschaft, ohne auch nur mit einer einzigen feindlichen Attacke konfrontiert worden zu sein, was ihm äußerst merkwürdig vorkommt. Noch ominöser aber ist, dass auch der Funkkontakt zu seiner Kommandozentrale seit geraumer Zeit abgerissen ist – selbst seine insistierenden Rückfragen waren bislang ohne irgendeine Reaktion geblieben. Irgendetwas stimmt da nicht! Oskar kann sich nicht erinnern, sich im Kampfeinsatz je in einer so fatalen, ja heimtückisch anmutenden Situation befunden zu haben.

Völlig verunsichert findet er sich mit einem Mal an einer weitläufigen Kreuzung wieder, deren mehrspurige Straßenzüge kaum mehr erkennbar sind, da diese von den Bombenangriffen entweder trichterförmig aufgerissen oder mit bizarr geformten Betonbruchstücken zerstörter Häuser übersät sind. Ganz in der Nähe scheint es noch heftig zu brennen, dichter schwarzgelber Rauch durchzieht das trostlose Gelände. Da! – Oskar staunt nicht schlecht, als er in den dichten Schwaden ihm gegenüber auf einmal die Silhouette eines mehrstöckigen Gebäudekomplexes erblickt, der die Angriffe wie durch ein Wunder offenbar mehr oder weniger unversehrt überstanden zu haben scheint.

Ohne zu zögern spurtet er über die Schrottlandschaft hinweg auf das Gebäude zu, geht dort hinter einem vorspringenden Betonpfeiler in dessen Außenfassade in Deckung, und dringt schließlich mit vorgehaltener Waffe durch den Eingangsbereich ins Innere des Gebäudes vor, um sich dann auch schon in Etappen Richtung Treppenhaus vorzuarbeiten – immer auf der Hut, hinter der nächsten Ecke nicht böse überrascht zu werden. Sein Plan ist, übers Treppenhaus nach oben zum Dach des Gebäudes zu gelangen, um sich von dort einen Überblick über die Lage zu verschaffen, hat er doch keinen blassen Schimmer, wo er sich im Moment befindet – zu allem Überfluss ist auch noch sein GPS ausgefallen.

Überaus behände eilt er die Treppen hinauf und flucht währenddessen immer wieder laut vor sich hin. Dass er damit unnötig auf sich aufmerksam macht, ist ihm im Augenblick scheißegal. Was interessiert ihn noch Sicherheit, wenn er ohnehin nicht mehr weiß, ob er aus der verfluchten Wüstenei, in die er ohne sein Zutun hineingeraten ist, jemals wieder herausfinden wird – ohne klare, logistisch eindeutige Kommandos ist er auf Dauer verloren!

Als er endlich oben auf dem Dach des Gebäudes angelangt ist und sich skeptisch nach allen Seiten hin umblickt, stockt ihm augenblicklich der Atem, befindet er sich doch offenbar inmitten der schier endlosen Ruinenlandschaft, die sich, vom üblen Qualm der vielen Feuer und Schwelbrände durchzogen, bis zum Horizont dahinzuziehen scheint – verflucht, er ist verloren. Verzweifelt versucht er erneut, mit seiner Kommandozentrale Kontakt aufzunehmen, vielleicht hat er hier oben ja Empfang?
„Hallo, Zentrale. Hier Oskar. Was ist los, verdammt noch mal? Seid ihr eingeschlafen da oben? Ich bin aufgeschmissen.“

„Was …!?“
Finn wacht auf, rekelt sich schlaftrunken auf seinem Stuhl und streckt, laut gähnend, die Arme in die Luft.
„Finn, hörst du mich …? Verdammt, was sind das für Geräusche?“ Oskar hält völlig entnervt inne und lauscht.
Finn, der noch ziemlich benommen ist, blickt irritiert zum Monitor hin, wo er Oskar auf einmal auf dem Dach eines Gebäudes stehen und zu ihm hochblicken sieht.

„Hey Oskar, was machst du denn auf dem Dach da?“, erwidert Finn verblüfft. „Wie ist die Lage?“
„Verdammt, die dämliche Frage könnte ich dir stellen. Seit einer geschlagenen Stunde irre ich nun schon durch dieses verfluchte Jammertal, ohne auch nur ein Wort von dir gehört zu haben. Mit geht’s beschissen. Ich habe mich total verlaufen, mein GPS ist ausgefallen. Außerdem scheint der Feind längst besiegt, also bewege ich mich offenbar völlig sinnlos durch diese verdammte Pampa hier, ohne irgendwie informiert worden zu sein.
„Ich bin eingeschlafen, das ist alles!“ Finn gähnt laut auf.
„Was …? Du spinnst wohl? Das kannst du mit mir machen, hörst du. Ich glaubte schon, ich könnte einpacken und wäre verloren!“
„Na, mal halblang Oskar …“
„Wir können es auch kurz machen, Finn, ich bin’s leid, ehrlich gesagt, ich steig aus!“

„Moment mal, nicht so übermütig, Oskar!“, unterbricht Finn gereizt. „Die haben mir vorhin eine Beruhigungsspritze verpasst, da bin ich einfach weggepennt. Soll ich mich dafür etwa noch bei dir entschuldigen?“
„Das wäre mehr als angebracht!“ Oskar lehnt sich demonstrativ an die Brüstung des Flachdachs des Gebäudes und schaut stinksauer zu Boden.
„Schluss jetzt, Oskar, lass das Getue! Was willst du denn? Der letzte Angriff hat doch offenbar perfekt funktioniert, wie ich so sehe. Und wenn die Guerillakämpfer alle erledigt sind, haben wir das Spiel schlussendlich gewonnen. Ist das etwa nichts?“
„Was heißt hier wir“, fährt Oskar Finn über den Mund. „Mich kannst du ab jetzt vergessen, Junge, ich spiel nicht mehr mit!“
Finn beugt sich ungläubig zum Monitor vor: „Was? Ich habe mich wohl verhört, mein Junge! Das ist ein Computergame hier, und kein Diskutier- oder Befindlichkeitsklub.“
„Ich will hier raus, hörst du? Ich habe die Nase gestrichen voll!“ „Was soll ich denn sagen? Ich sitze genauso fest wie du!“
„Ach so, wie das …?“ Oskar blickt erstaunt auf.
„Ich bin ein sogenannter Systemsprenger, der einfach nicht ins Schema der Gesellschaft passt und ständig nur hin und her geschoben wird, Junge Und jetzt haben sie mich wieder mal in die Psychiatrie verfrachtet, wo ich in der Geschlossenen festsitze, bis ich mit meinen Wutanfällen wieder runterkomme. Deshalb die Spritze und die Tabletten, verstehst du? Und da ich mich nach Meinung meines Arztes nun auf dem Weg der Besserung befinde, darf ich seit heute auch wieder für eine Stunde am Computer spielen. Es ist doch toll, dass wir endlich wieder gemeinsam unterwegs sind. oder?“
„Und wenn ich auch ein Systemsprenger wäre wie du, der allerdings nicht in der Psychiatrie, sondern in einem Computer festsäße?“

„Dann spring doch einfach aus dem Monitor da raus, Oskar! Aber pass bitte auf, dass du dabei nicht mit dem Kopf von innen gegen die Scheibe donnerst und ins Game zurückgeschleudert wirst.“
„Und wenn ich’s im Gegenteil zu dir doch schaffen würde, mich aus meinem beschissenen System hier zu befreien?“
„Du hast echt einen Knall, Junge. Dann versuch’s doch mal. Ich bin schon gespannt, dich in voller Lebensgröße vor mir zu sehen ...“

Finn lacht spöttisch auf und klappt ruckartig seinen Computer zu.

Eine Erzählung in 10 Kapiteln
Kapitel 1

1

Irgendetwas ist im Busch – Oskars Sensoren schlagen Alarm. Augenblicklich hält er im Schutz eines völlig ausgebrannten Tanks inne und checkt kritisch die Umgebung; als hocherfahrenem, technisch perfekt ausgerüstetem Einzelkämpfer entgeht ihm so schnell kein Detail, das auf einen feindlichen Hinterhalt hinweisen würde. Und dennoch, selbst Oskar muss höllisch aufpassen, hier zwischen all den zerbombten Gebäuden und zerstörten Militärfahrzeugen im zermürbenden Straßenkampf nicht von irgendeinem Guerillakrieger, der sich hinter einem Mauervorsprung oder einer halbeingefallenen Fensteröffnung verschanzt hält, überrascht und kurzerhand niedergeschossen zu werden. Zudem kann er in der verdammten Senke, in der er gerade feststeckt, die Lage nicht wirklich beurteilen. Folglich wechselt er mit einem kühnen Satz die Position und springt mit vorgehaltenem Schnellfeuergewehr raubkatzenartig einen Schuttberg aus Mauerwerk empor, auf dem er sich oben angelangt, hinter einem großen Betonklotz in Deckung bringt, um sich einen Überblick über das total verwüstete Terrain zu verschaffen. Doch wohin er auch blickt, er kann keine unmittelbare Gefahr erkennen, die Luft scheint rein. Sichtlich erleichtert atmet er durch und klettert die künstliche Erhöhung wieder hinunter, um seine Patrouille weiter fortzusetzen.

Eine geschlagene Stunde lang irrt er nun schon durch die nicht enden wollende und hier und da noch brennende Ruinenlandschaft, ohne auch nur mit einer einzigen feindlichen Attacke konfrontiert worden zu sein, was ihm äußerst merkwürdig vorkommt. Noch ominöser aber ist, dass auch der Funkkontakt zu seiner Kommandozentrale seit geraumer Zeit abgerissen ist – selbst seine insistierenden Rückfragen waren bislang ohne irgendeine Reaktion geblieben. Irgendetwas stimmt da nicht! Oskar kann sich nicht erinnern, sich im Kampfeinsatz je in einer so fatalen, ja heimtückisch anmutenden Situation befunden zu haben.

Völlig verunsichert findet er sich mit einem Mal an einer weitläufigen Kreuzung wieder, deren mehrspurige Straßenzüge kaum mehr erkennbar sind, da diese von den Bombenangriffen entweder trichterförmig aufgerissen oder mit bizarr geformten Betonbruchstücken zerstörter Häuser übersät sind. Ganz in der Nähe scheint es noch heftig zu brennen, dichter schwarzgelber Rauch durchzieht das trostlose Gelände. Da! – Oskar staunt nicht schlecht, als er in den dichten Schwaden ihm gegenüber auf einmal die Silhouette eines mehrstöckigen Gebäudekomplexes erblickt, der die Angriffe wie durch ein Wunder offenbar mehr oder weniger unversehrt überstanden zu haben scheint.

Ohne zu zögern spurtet er über die Schrottlandschaft hinweg auf das Gebäude zu, geht dort hinter einem vorspringenden Betonpfeiler in dessen Außenfassade in Deckung, und dringt schließlich mit vorgehaltener Waffe durch den Eingangsbereich ins Innere des Gebäudes vor, um sich dann auch schon in Etappen Richtung Treppenhaus vorzuarbeiten – immer auf der Hut, hinter der nächsten Ecke nicht böse überrascht zu werden. Sein Plan ist, übers Treppenhaus nach oben zum Dach des Gebäudes zu gelangen, um sich von dort einen Überblick über die Lage zu verschaffen, hat er doch keinen blassen Schimmer, wo er sich im Moment befindet – zu allem Überfluss ist auch noch sein GPS ausgefallen.

Überaus behände eilt er die Treppen hinauf und flucht währenddessen immer wieder laut vor sich hin. Dass er damit unnötig auf sich aufmerksam macht, ist ihm im Augenblick scheißegal. Was interessiert ihn noch Sicherheit, wenn er ohnehin nicht mehr weiß, ob er aus der verfluchten Wüstenei, in die er ohne sein Zutun hineingeraten ist, jemals wieder herausfinden wird – ohne klare, logistisch eindeutige Kommandos ist er auf Dauer verloren!

Als er endlich oben auf dem Dach des Gebäudes angelangt ist und sich skeptisch nach allen Seiten hin umblickt, stockt ihm augenblicklich der Atem, befindet er sich doch offenbar inmitten der schier endlosen Ruinenlandschaft, die sich, vom üblen Qualm der vielen Feuer und Schwelbrände durchzogen, bis zum Horizont dahinzuziehen scheint – verflucht, er ist verloren. Verzweifelt versucht er erneut, mit seiner Kommandozentrale Kontakt aufzunehmen, vielleicht hat er hier oben ja Empfang?
„Hallo, Zentrale. Hier Oskar. Was ist los, verdammt noch mal? Seid ihr eingeschlafen da oben? Ich bin aufgeschmissen.“

„Was …!?“
Finn wacht auf, rekelt sich schlaftrunken auf seinem Stuhl und streckt, laut gähnend, die Arme in die Luft.
„Finn, hörst du mich …? Verdammt, was sind das für Geräusche?“ Oskar hält völlig entnervt inne und lauscht.
Finn, der noch ziemlich benommen ist, blickt irritiert zum Monitor hin, wo er Oskar auf einmal auf dem Dach eines Gebäudes stehen und zu ihm hochblicken sieht.

„Hey Oskar, was machst du denn auf dem Dach da?“, erwidert Finn verblüfft. „Wie ist die Lage?“
„Verdammt, die dämliche Frage könnte ich dir stellen. Seit einer geschlagenen Stunde irre ich nun schon durch dieses verfluchte Jammertal, ohne auch nur ein Wort von dir gehört zu haben. Mit geht’s beschissen. Ich habe mich total verlaufen, mein GPS ist ausgefallen. Außerdem scheint der Feind längst besiegt, also bewege ich mich offenbar völlig sinnlos durch diese verdammte Pampa hier, ohne irgendwie informiert worden zu sein.
„Ich bin eingeschlafen, das ist alles!“ Finn gähnt laut auf.
„Was …? Du spinnst wohl? Das kannst du mit mir machen, hörst du. Ich glaubte schon, ich könnte einpacken und wäre verloren!“
„Na, mal halblang Oskar …“
„Wir können es auch kurz machen, Finn, ich bin’s leid, ehrlich gesagt, ich steig aus!“

„Moment mal, nicht so übermütig, Oskar!“, unterbricht Finn gereizt. „Die haben mir vorhin eine Beruhigungsspritze verpasst, da bin ich einfach weggepennt. Soll ich mich dafür etwa noch bei dir entschuldigen?“
„Das wäre mehr als angebracht!“ Oskar lehnt sich demonstrativ an die Brüstung des Flachdachs des Gebäudes und schaut stinksauer zu Boden.
„Schluss jetzt, Oskar, lass das Getue! Was willst du denn? Der letzte Angriff hat doch offenbar perfekt funktioniert, wie ich so sehe. Und wenn die Guerillakämpfer alle erledigt sind, haben wir das Spiel schlussendlich gewonnen. Ist das etwa nichts?“
„Was heißt hier wir“, fährt Oskar Finn über den Mund. „Mich kannst du ab jetzt vergessen, Junge, ich spiel nicht mehr mit!“
Finn beugt sich ungläubig zum Monitor vor: „Was? Ich habe mich wohl verhört, mein Junge! Das ist ein Computergame hier, und kein Diskutier- oder Befindlichkeitsklub.“
„Ich will hier raus, hörst du? Ich habe die Nase gestrichen voll!“ „Was soll ich denn sagen? Ich sitze genauso fest wie du!“
„Ach so, wie das …?“ Oskar blickt erstaunt auf.
„Ich bin ein sogenannter Systemsprenger, der einfach nicht ins Schema der Gesellschaft passt und ständig nur hin und her geschoben wird, Junge Und jetzt haben sie mich wieder mal in die Psychiatrie verfrachtet, wo ich in der Geschlossenen festsitze, bis ich mit meinen Wutanfällen wieder runterkomme. Deshalb die Spritze und die Tabletten, verstehst du? Und da ich mich nach Meinung meines Arztes nun auf dem Weg der Besserung befinde, darf ich seit heute auch wieder für eine Stunde am Computer spielen. Es ist doch toll, dass wir endlich wieder gemeinsam unterwegs sind. oder?“
„Und wenn ich auch ein Systemsprenger wäre wie du, der allerdings nicht in der Psychiatrie, sondern in einem Computer festsäße?“

„Dann spring doch einfach aus dem Monitor da raus, Oskar! Aber pass bitte auf, dass du dabei nicht mit dem Kopf von innen gegen die Scheibe donnerst und ins Game zurückgeschleudert wirst.“
„Und wenn ich’s im Gegenteil zu dir doch schaffen würde, mich aus meinem beschissenen System hier zu befreien?“
„Du hast echt einen Knall, Junge. Dann versuch’s doch mal. Ich bin schon gespannt, dich in voller Lebensgröße vor mir zu sehen ...“

Finn lacht spöttisch auf und klappt ruckartig seinen Computer zu.

Kapitel 2

2
 
„Wach auf, Finn. Ich hab’s geschafft!“
Finn, der tief in der Nacht im Klinikbett einer Isolierzelle liegt und fest schläft, reagiert nicht. Oskar versucht es ein weiteres Mal, beugt sich über Finn und flüstert ihm eindringlich ins Ohr: „Hey, Finn, ich bin’s, Oskar. Wach auf, verdammt noch mal. Die Zeit läuft uns davon!“
„Oskar …?“ Finn dreht sich brummelnd um, zieht die Bettdecke über den Kopf und pennt weiter.
Oskar rastet aus: „Verdammt, so wird das nichts, Junge. So hör doch endlich! Du willst doch raus hier. Also komm, ich helfe dir …!“

Finn schrickt auf und öffnet schlaftrunken die Augen. Und als er auf einmal seinen Avatar neben seinem Bett stehen sieht, glaubt er, jetzt sei es um ihn geschehen. Entsetzt aufschreiend springt er aus seinem Bett und läuft zur gepolsterten Tür seiner Isolierzelle, gegen die er wie wild zu trommeln beginnt: „Hilfe, Oskar ist hinter mir her ... Hey, so helft mir doch!“, schreit er aus Leibeskräften.

Nach wenigen Augenblicken wird von außen die Tür aufgestoßen und ein Pfleger drängt in den Raum. Finn, der dabei in den Raum zurückgeschleudert wird und zu Boden geht, richtet sich wimmernd auf und deutet totenbleich zu seinem Bett hin.
„Was hast du, Junge? fragt ihn der Pfleger mit besorgter Miene.
„Da, da …“, raunt Finn und schaut diesem panisch ins Gesicht.
„Was hast du, Junge? Da ist niemand!“, erwidert der Pfleger und hilft Finn wieder auf die Beine.
„Aber da stand doch Oskar gerade …“, stammelt Finn und blickt sich völlig entgeistert um.
„Wer ist Oskar, mein Junge?
„Mein Avatar!“
„Dein Avatar …?“ Dem Pfleger verschlägt es die Sprache. „Nun, der hat sich offenbar in Luft aufgelöst“, murmelt er nach einer Weile und nimmt Finn sorgenvoll in den Arm. „Sei beruhigt, Junge, das hast du sicher alles nur geträumt. Du hast doch heute Nachmittag seit Langem wieder an deinem Computer spielen dürfen, hat mir Schwester Irmgard vorhin bei der Übergabe erzählt. Da hast du dich offenbar derart ins Game hineingesteigert, dass dir jetzt dein Avatar im Traum erschienen ist. Nun komm, Junge, leg dich wieder hin und versuch einzuschlafen. Wenn es nicht funktioniert, kann ich dir ja ein leichtes Schlafmittel bringen …“

„Das wird nicht nötig sein“, fährt der Stationsarzt unwirsch dazwischen, der schon eine Weile in der Tür steht und das Gespräch verfolgt hat. „Lassen Sie’s gut sein, Mann“, ruft er dem Pfleger zu. „Ab jetzt werde ich mich um den Patienten kümmern. … Komm, mein Junge, wir gehen in mein Zimmer, dann kannst du mir von allem in Ruhe erzählen. Ich würde gerne mehr von deinem Traum und dem Avatar erfahren, wenn du willst.“
„Okay“, erwidert Finn sichtlich erleichtert, der den Stationsarzt besonders schätzt. Er ist nämlich der erste der vielen Ärzte in seiner langen Patientenkarriere, der ihn versteht.

 

Kapitel 3

3

„So, da sind wir …“, murmelt der Stationsarzt und lässt Finn den Vortritt. „Du kennst mein Zimmer ja, mein Junge. Also geh doch schon mal rein und setz dich, ich komme gleich nach. Ich habe nämlich völlig vergessen, dem Pfleger noch etwas Wichtiges mitzuteilen.“
„Klar doch!“ Finn öffnet die Türe zum Arztzimmer und setzt sich auf den Stuhl, auf dem er als Patient normalerweise sitzt. Die Türe lässt er offen, der Stationsarzt wird ja jeden Augenblick zurück sein.

„Also, nun lege mal los und erzähle mir von deinem Avatar, mein Junge“, sagt dieser das Gespräch eröffnend, nachdem er kurz später den Raum betreten und auf seinem Schreibtischstuhl Platz genommen hat. Finn zögert und schaut irritiert zur immer noch offenstehenden Türe hin.
„Ach die Türe … Verzeih, Junge, ich war gerade ganz in Gedanken. Kannst du sie bitte schließen, das wäre wirklich nett von dir.“
„Aber ja doch“, sagt Finn und tut, wie ihm geheißen.

„Nun, was hat es mit diesem Avatar auf sich?“, fährt der Arzt fort und blickt Finn erwartungsvoll in die Augen.
„Nun, was soll ich da groß erzählen, Doc. Den habe ich mir in dem Computerspiel, das ich meistens spiele, einfach selbst zusammengebastelt.“
„Zusammengebastelt …?“, wiederholt der Arzt sichtlich echauffiert. „Und wie, wenn ich fragen darf.“
„Nun, er sieht genauso aus wie ich.“
„Ach ja. Und warum hast du ihn dann Oskar genannt?“
„Nun ja, Oskar ist doch ein völlig bescheuerter Name, Doc. So stelle ich mir eben jemanden vor, der selbst nichts richtig gebacken kriegt und anderen ständig am Rockzipfel hängt.“

Sichtlich irritiert blickt der Stationsarzt von seinen Notizen auf und fixiert Finn eine Weile: „Ist es dann nicht ziemlich gemein von dir, wenn du deinen Avatar Oskar nennst?“, erwidert er endlich sichtlich konsterniert und klopft mit seinem Stift nervös aufs Papier.
„Wieso? Im Grunde ist ein Avatar doch ein armseliges Wesen, das ständig nur rumkommandiert wird und ansonsten nur rumhängt, weil es aus sich heraus nichts zuwege bringt. Stellen Sie sich doch bitte mal vor, ich wäre so ein Typ, Doc, dann würden selbst Sie therapeutisch bald aus der Kurve fliegen und die Fassung verlieren, oder?“
„Und wenn dein Avatar in Wahrheit ein ganz anderer wäre, was dann …?“

Finn schaut unsicher zu Boden und schlägt hibbelig die Beine übereinander: „Wie meinen Sie das, Doc?“
„Nun, vielleicht hat es Oskar ja gründlich satt, ständig nach deiner Pfeife zu tanzen und will in Zukunft einfach nur frei und selbstbestimmt leben.
Finn wird rot im Gesicht und starrt den Stationsarzt mit offenem Mund an. „Woher wollen Sie das wissen, Doc?“
„Nun, ich versuche mich lediglich in Oskar hineinzuversetzen. Immer nur unter deiner Knute, das muss auf Dauer doch die Hölle für ihn sein. Und dann auch noch deine ständigen Wutausbrüche, mein Junge, das hält doch keiner lange aus! Da will man doch nur noch raus aus dieser verdammten Knechtschaft …!“
„Was ist auf einmal los mit Ihnen, Doc? So kenn ich Sie gar nicht. Irgendwas ist Ihnen wohl über die Leber gelaufen!“
„Nun ja …“ Völlig überraschend steht der Arzt auf und geht spontan auf eine Türe zu, die nicht zur Station zurückführt. „Komm, Junge, etwas frische Luft wird uns beiden guttun, ich bin völlig überarbeitet“, erwidert der Arzt freundlich lächelnd. „Lass uns doch in den Garten hinuntergehen, dort können wir unser Gespräch dann ja etwas entspannter fortsetzen.“
Finn zögert: „Nachts in den Garten? Das ist uns Patienten doch strengstens untersagt.“
„Aber nicht in Begleitung eines Arztes, mein Junge“, lacht der Arzt erheitert auf. „Also komm, aber zieh dir vorher bitte noch was Vernünftiges an. Draußen ist es nämlich schon verdammt kalt, es wird Herbst. Ich warte indessen hier auf dich, muss mir ohnehin noch ein paar Dinge für morgen zurechtlegen …!“

 

Kapitel 4

4

Nach einem erstaunlich angeregten Gespräch und ein paar Runden durch den Klinikgarten, der eher an einen begrünten Gefängnishof erinnert, haben sich der Arzt und Finn, der auf einmal merkwürdig still geworden ist, auf eine Bank niedergesetzt.
„Alles okay …“, fragt ihn der Arzt besorgt?
„Geht schon“, erwidert Finn leise, der sich gerade anschickt, dem Doc den Beginn seiner Leidensgeschichte zu erzählen – von einer schier unfassbaren Episode in seinem noch jungen Leben, über die er bislang beharrlich geschwiegen hatte. Zu groß waren einfach die seelischen Verletzungen, die ihm dabei zugefügt worden waren, als dass er darüber – wem auch immer gegenüber – auch nur ein Sterbenswörtchen hätte über die Lippen bringen können. Doch jetzt, wo er mit dem ihm äußerst vertrauten Doc mitten in der Nacht unterm winterlichen Sternenhimmel auf einer Bank sitzt – eine im Grunde völlig absurde Situation, kommt er derart in innere Bewegung, dass er von den unsäglichen Erlebnissen von damals mit einem Mal wie selbstverständlich berichten kann – offen, ehrlich und schonungslos sprudelt es aus ihm heraus.

„Das Ganze ging los, nachdem sich meine Eltern hatten scheiden lassen und mein Vater ausgezogen war“, beginnt Finn seine Erzählung. „Wobei ich mit meinem Vater eigentlich nie viel Kontakt hatte – wir waren uns einfach viel zu fremd, und das von Anfang an. Aber mein Vater war nicht das Problem. Das Problem war meine Mutter!“
„Inwiefern …?“ Der Stationsarzt schließt die Augen, als wolle er sich auf Finns Worte konzentrieren.

„Nun jetzt, wo ich als Einzelkind mit ihr allein in der Wohnung lebte, hat sie mich auf einmal behandelt, als sei ich ihr neuer Ehemann. Da war ich gerade mal dreizehn, Doc – dreizehn, das muss man sich erstmal reinziehen. Des Nachts musste ich mit ihr in einem brandneuen Ehebett, das sie extra wegen mir angeschafft hatte, schlafen. Mit gepolstertem Kopfteil, ganz in Blau inklusive Bettwäsche, alles in meiner Lieblingsfarbe. … Das sollte mich wohl heiß machen!“
„Davon hast du mir nie erzählt, Finn“, murmelt der Arzt mit geschlossenen Augen.
„Ich konnte nicht, Doc! Das war mir schlichtweg unmöglich. Das Ganze steckte in mir wie zäher, dunkler Schleim …“
„Nun aber scheint sich dieser Schleim zu verflüssigen. Also lass den Dreck raus, Finn!“, raunt der Stationsarzt, ohne die Augen zu öffnen.

„Jetzt bist du mein Mann!“, versuchte mich meine Mutter zu bezirzen und zog mich zu ihr ins Bett“, erzählt Finn eigentümlich gefasst weiter. „Und vor dem Einschlafen gab es regelmäßig so eine Art Ritual, bei dem sie meinen nackten Körper streichelte und befühlte. „Der wahre Mann schläft nackt!“, wurde sie nicht müde zu betonen. Anfänglich befingerte sie mich eine Zeitlang nur etwas unter der Bettdecke, nach ein paar Tagen aber ging sie dazu über, gleich meinen Pimmel einzuölen, sodass ich eine Erektion bekam. Dann setzte sie sich auf mich drauf und ließ meinen noch relativ kleinen Pimmel in ihrer Scheide hin und her wandern. „Du bist mein kleiner Mann, mein Ein und Alles“, stöhnte sie dabei. Nach ein paar Tagen aber hielt ich diesen ganzen Irrsinn nicht mehr aus, und ergriff die Flucht. Und wie es dann weiterging, wissen Sie ja, Doc. Wie ich drei Tage danach im Zug von der Polizei geschnappt wurde, weil mich meine Mutter als vermisst gemeldet hatte. Und wie vehement ich mich dagegen wehrte, zu ihr zurückgebracht zu werden. Genau in dieser Zeit gingen auch mit meinen Wutanfällen los, die ich bald nicht mehr im Griff hatte.“ Finn lacht sarkastisch auf: „Aber selbst die halfen mir nichts. Denn das Jugendamt schickte mich ohne langes Hin und Her wieder zu meiner Mutter zurück ...“
„Mütter und Frauen gelten per se als aufopfernd und liebevoll. Dass einige auch destruktive Seiten aufweisen, gilt als eher ausgeschlossen, das ist in unserer Gesellschaft leider Gottes so“, denkt der Arzt laut vor sich hin.
„Selbst Polizisten oder Gutachter haben Mühe, Täterinnen zu identifizieren. Nur die Männer stehen im Fokus.“

Finn, der weit zurückgelehnt auf der Bank dasitzt und in die Weiten des nächtlichen Himmels hochblickt, beginnt leise zu weinen. „Von da an ging’s bergab, Doc“, fährt er mit tränenerstickter Stimme fort. „Denn jetzt saß ich so richtig in der Falle. Zwar wehrte ich mich aus Leibeskräften, wenn meine Mutter mich wieder mal ins Bett zerren wollte und schlief demonstrativ im Wohnzimmer auf der Couch. Doch sie ließ nicht locker und versuchte es immer wieder, bis ich eines Tages durchdrehte und alle möglichen Gegenstände, derer ich im Schlafzimmer habhaft werden konnte, wie einen Bombenhagel auf sie niederregnen ließ, wobei ich sie dummerweise leicht am Kopf verletzte. Unverzüglich rief sie die Polizei, die mich daraufhin abholte und sofort in die Psychiatrie einlieferte. Meine Mutter ist nämlich Weltmeisterin im Dinge-Verdrehen: Ich sei unzurechnungsfähig und hätte sie töten wollen, behauptete sie, man solle sie vor mir schützen. Und nach der Klapsmühle, in der sie mich über Monate festhielten und mit Pillen vollstopften, kam ich in ein Jugendheim für Sonderfälle: So nennt man wohl all diejenigen Kids, denen man schon frühzeitig die Seele verbogen oder gar gebrochen hat. Danach kam ich zu völlig überforderten Pflegeeltern, die es mal mit mir versuchen wollten, wie sie dem Jungendamt gegenüber beteuerten. Und als das schon nach ein paar Wochen schief ging, was absolut absehbar war, wurde ich in eine therapeutische Wohngemeinschaft verpflanzt, an der wenig therapeutisch, aber alles total durchorganisiert war. Und so weiter und so fort. Aber niemand konnte meine Wutausbrüche, die mich zuweilen schon bei den kleinsten Verunsicherungen überfielen, wirklich handhaben, geschwiege denn, mich von diesen befreien. Die Therapeuten waren hilflos und ich erst recht. Schließlich bekam ich die Diagnose Systemsprenger und rangiere seitdem als ein bekloppter Jugendlicher, der sich einfach nicht einfügen will und schlichtweg therapieresistent ist. Und da sitz ich nun mit Ihnen hier mitten in der Nacht in der Kälte und weiß nicht weiter … es ist zum Kotzen. Wohin, Doc, wohin? Am besten wäre es wohl, wenn ich mich beiseiteschaffen würde. Welche Zukunft habe ich denn noch …?“
„Die liegt jenseits dieser Mauern, Finn“, erwidert der Arzt trocken und deutet vielsagend ins Ungefähre. „Da draußen gibt’s Raum, Finn, nicht nur System!“
„Wie meinen Sie das, Doc …?

Finn richtet sich irritiert auf und schaut zum Stationsarzt hin. Doch dieser hat sich urplötzlich in seinen Avatar Oskar verwandelt: Finns Sinne entgleisen, völlig verblüfft wird ihm schwarz vor Augen – er erstarrt.
„Keine Angst, Junge, du wirst dich schon an meinen Anblick gewöhnen!“, raunt der Avatar milde lächelnd „Außerdem kannst du dich auf mich verlassen, ich bring dich hier raus. Das hatte ich dir doch heute Nachmittag versprochen, sollte ich es selbst schaffen, mich aus meinem System zu befreien. Du siehst: Was unmöglich erscheint, ist doch möglich! Man muss es nur wollen …!“
Der Avatar verstummt, schaut diskret zu Boden und wartet geduldig ab, bis Finn wieder ansprechbar ist.

Und als dieser erstaunlicherweise relativ rasch wieder an Fassung gewinnt, steht ihm zwar immer noch der Angstschweiß auf der Stirn, doch wirkt er nun mit einem Mal so, als hätte er das Unglaubliche, das ihm gerade widerfuhr, stillschweigend akzeptiert. Noch etwas benommen hockt er da und mustert seine Gamegestalt, die ihm bis aufs Haar gleicht, eine Zeitlang von oben bis unten.
„Du bist wirklich des Wahnsinns, Oskar“, sagt er endlich den Kopf schüttelnd. „In der Isolierzelle vorhin dachte ich noch, jetzt sei ich wirklich verrückt geworden. Aber wie ich nun sehe, habe ich mich getäuscht. Du bist es wirklich. Nicht ich bin wahnsinnig, sondern einzig und allein du …“ Finn lacht ironisch auf und klopft sich auf die Schenkel: „Hut ab, Oskar, der Coup ist dir gelungen. Aber sag, wie hast du das bloß geschafft?“
Der Avatar grinst triumphierend über beide Ohren: „Wo ein Wille ist, ist ein Weg, Finn, wie oft soll ich dir das noch sagen! Aber sei ehrlich, die Nummer als Stationsarzt gerade war doch auch nicht von schlechten Eltern, oder?“
„Kann man so sagen“, erwidert Finn und wischt sich den Schweiß von der Stirne. „Offensichtlich kannst du jetzt ja auch deine Gestalt verändern und perfekt in die Haut eines anderen schlüpfen?“
„Nun, als Avatar ist man ja erst einmal nichts Anderes als eine Art Blaupause, und nimmt, ob man nun will oder nicht, jede Gestalt an, die der User von einem verlangt. Aber das weißt du ja. Und dieser Wesenszug ist mir glücklicherweise geblieben, obwohl ich jetzt endlich raus bin aus diesem verdammten Spiel. Deshalb kann ich nun auch völlig selbstbestimmt entscheiden, wie ich in Erscheinung treten will – allerdings immer nur als eine Art Hologramm, wenn du verstehst, was ich meine. Darüber hinaus kann ich mich aber auch mal eben so unsichtbar machen, wie vorhin in deiner Isolierzelle. Denn dies ist im Grunde ja auch mein Urzustand, bevor mich irgendjemand wie du nach seinem Bilde zusammenbastelt …“
Zusammenbasteln würde ich das nicht nennen“, unterbricht Finn, der versucht gegenzuhalten, weil er genau weiß, was jetzt kommt.
Und richtig: „Was willst du, Junge!“ entfährt es dem Avatar gereizt. „Genauso hast du dich doch gerade dem Stationsarzt gegenüber ausgedrückt. Verdammt, was für eine abschätzige Bemerkung, als ob ich aus dem Baumarkt käme und einfach nur zusammengeschraubt werden müsste, um zu funktionieren. Das Bild, das ihr Menschen manchmal von eurem Gegenüber habt, stinkt wirklich zum Himmel. Andere Avatare würden dir jetzt an die Gurgel gehen, wenn sie denn könnten …“
„Na, hör mal, Oskar, mit der Arztnummer gerade hast du mich ganz schön mies hinters Licht geführt“, versucht Finn sich zu verteidigen. „Der Doc hat doch keine Ahnung von Computerspielen, also musste ich ihm das Ganze so einfach wie möglich erklären, damit er versteht!“
„Rede dich nicht um Kopf und Kragen, Junge, ich warne dich. Und über den unsäglichen Namen Oskar, den du mir zynischer Weise verpasst hast, werden wir auch noch mal sprechen müssen, aber dafür fehlt nun wirklich die Zeit. Und dennoch: Für einen so bescheuerten Typ, der selbst nichts richtig gebacken kriegt und anderen ständig am Rockzipfel hängt, habe ich doch so einiges auf Lager, oder?
 
„Na, geht so!“, erwidert Finn und lacht schallend auf: „Aber bitte vergiss nicht, dass du als Hologramm keinen Körper besitzt. Das ist doch ein Riesenhandicap, oder etwa nicht? Wie willst du dich denn da bitte frei bewegen, wenn du nicht mal ne Türe von allein öffnen oder schließen kannst …!“
„Na, hör mal, mach dich bitte nicht über meine Schwächen lustig und denk besser an deine eigenen!“, versucht der Avatar dazwischen zugehen.
„Nun mal halblang, Oskar. Deine Arie mit der Türe zum Arztzimmer vorhin war zwar grandios inszeniert, aber leider doch nur hilflos. Verdammt, dass ich da nicht gleich draufgekommen bin, dass da was faul ist! Bitte geh doch schon mal vor, hast du zu mir als Hologramm-Doc gesagt, du hättest vergessen, dem Pfleger noch was Wichtiges mitzuteilen. Nur, damit ich für dich die Türe zum Arztzimmer aufmache, die ich dann ja auch wieder schließen musste, nachdem du ins Zimmer gekommen bist und dich auf den Arztstuhl gehockt hattest. Wie also willst du als bloße Luftnummer hier in unserer Welt zurechtkommen, das verrate mir mal? Im Game ging das, aber hier …? Nein, deine ganze neu gewonnene Freiheit kannst du als Hologramm-Krüppel vergessen, hörst du!“
„An deiner Stelle würde ich mich nicht so naseweis aus dem Fenster hängen, Junge“, kontert der Avatar. „Du hast doch keine Ahnung, wovon du redest. Wie aber solltest du auch, du bist ja noch ganz grün hinter den Ohren mit deinen gerade mal Fünfzehn.“
„Was willst du, Oskar? Du mokierst dich über mein Alter, hast aber selbst keins, das ist doch irgendwie ziemlich daneben, oder? An deiner Stelle würde ich mich etwas zurückhalten, bist du doch von Kopf bis Fuß nichts anderes als ein virtuelles Monster, das sich in die Realität verirrt hat.“
„Sieh an, jetzt wird der Kleine auch noch philosophisch!“ Der Avatar lacht spöttisch auf. „Woher willst du denn wissen, was Realität ist, Junge? Vielleicht ist der Sternenhimmel da oben ja gar nicht so wirklich, wie du glaubst, sondern eine perfekte Sinnestäuschung und in Wahrheit nichts anderes als ein einziges Hologramm – flach wie ein Bildschirm und fern davon, ein dreidimensionaler Raum zu sein.“
„Ach so?“ Finn starrt den Avatar ungläubig an. „Wie das?“
„Nun stell dir einfach vor, du marschierst mit einer VR-Brille durch beeindruckende virtuelle Landschaften wie durch einen dreidimensionalen Raum, der dir in Wahrheit aber nur von zwei flachen Bildschirmen vor deinen Augen imaginiert wird. Verstehst du jetzt?
„Du musst es ja wissen“, spottet Finn völlig verwirrt. „Nur weil du ein Hologramm bist, soll die ganze Welt auch gleich eins sein, wie praktisch für dich. Dann wäre ich der Idiot, und du derjenige, der den vollen Durchblick hätte. Bravo, so platt kann man sich die Welt auch zusammenbasteln, wenn man mit dem Rücken zur Wand steht.“
„Nun rede nicht so arrogant daher, du Dreikäsehoch. Das Ganze saug ich mir wahrlich nicht aus den Rippen. Denn so sehen es mittlerweile nicht wenige Astrophysiker, von denen du offenbar keinen blassen Dunst hast. Google doch einfach mal Holografisches Prinzip, dann wirst du schon sehen. Du aber hängst immer nur in deinem verfluchten Computerspiel rum, frisst Chips und trinkst Cola Light und kriegst nichts mit von den Dingen ...“

Der Avatar lehnt sich auf der Bank weit zurück und betrachtet Finn aus der Distanz: „Sei es wie es sei, Junge. Ohne mich wirst du jedenfalls keine Chance haben, aus dem ganzen Schlammassel hier rauszukommen, das sollte dir klar sein. Oder willst du im System vollends versumpfen und schließlich in ihm verrecken?“
Finn hält erschrocken den Atem und denkt lange nach. „Nein, unter keinen Umständen!“, sagt er endlich wild entschlossen. „Also, was schlägst du vor, Oskar? Jetzt gilt es doch erst mal hier rauszukommen, oder sehe ich da was falsch?“
„Nicht im Geringsten, mein Lieber. Also los!“
„Und wie …?“ Finn blickt sich skeptisch um.
„Nun, über die Mauer dort wirst du es doch hoffentlich noch schaffen. Klettere einfach drüber – ganz im alten Stil. Ich pass auf. Und wenn dich dabei jemand entdecken könnte, lenk ich ihn vorher ab. Verlass dich drauf.“
„Und dann?“
„Und dann, und dann. Jetzt setz erst mal deinen Arsch in Bewegung. Jeder Versuch beginnt schließlich mit einer Bewegung …“

 

Kapitel 5

5

Völlig übernächtigt steht Finn in aller Herrgottsfrühe an einer in einem Außenbezirk der Stadt gelegenen Straßenkreuzung und blickt mit flauem Magen zum monströsen Wohnblock hinüber, in dem er aufgewachsen ist. Düstere Bilder steigen in ihm auf. Diesmal aber wirken diese absonderlicher Weise weit weniger bedrohlich und obsessiv auf ihn als es sonst der Fall gewesen war – erstaunt hält er inne und wundert sich über sich selbst. Mit der Aussicht, mithilfe seines Avatars möglicherweise doch noch aus seiner ihm bislang als völlig ausweglos erscheinenden Misere herauszufinden, hat er offenbar auch eine gewisse Distanz seiner verqueren Vergangenheit gegenüber gewonnen, die es ihm mit einem Mal erlaubt, sich nicht mehr – wie zwangsläufig und gleichsam schicksalsbedingt – als Opfer der Gegebenheiten zu empfinden, sondern vielmehr als Akteur, der es selbst in der Hand hat, den verfluchten gordischen Knoten zu zerschlagen, um die fatale Situation, in der er bis zum Halse feststeckt, endlich zu überwinden und sich aus ihr zu befreien.

Entscheidend für diesen plötzlichen Sinneswandel aber war ein ganz anderes, nachgerade magisches Erlebnis gewesen. Das nämlich, sich urplötzlich selbst, gleichsam leibhaftig gegenüberzustehen. Und dies nicht etwa im Spiegel, was für Finn ohnehin schon immer eine äußerst vertrackte Angelegenheit gewesen war, an die er sich partout nicht hatte gewöhnen können. Nein, er traute seinem Spiegelbild nicht, wirkte dieses doch immer wie eine ihm völlig fremde Person, die ihn da durch irgendeine Öffnung in der Wand von der anderen Seite aus betrachtete.

Und genau diese ominöse andere Seite war es, die ihm unbändige Angst einjagte und ihn am ganzen Körper frösteln ließ, wenn er sich im Spiegel betrachtete, denn regelmäßig beschlich ihn dabei das abgründige Gefühl, sich da mit einem Wesen aus einer ganz anderen Welt konfrontiert zu sehen. Einem Wesen, das sich perfide tarnte und sich partout nicht in die Karten sehen ließ, indem es sich ihm auf hinterhältige Art und Weise stets nur in Finns Gestalt präsentierte, die sie filmisch perfekt zu simulieren wusste. Und das in all seinen Bewegungen so verflucht präzise und gemein synchron, dass er es selbst mit einer plötzlichen Verrenkung oder einem blitzschnellen Grimassieren nicht aus der Reserve locken konnte und ihm dessen wahre Identität wohl für immer ein Rätsel bleiben musste.

Doch jetzt hatte sich sein Spiegelbild offenbar geoutet und endlich zugegeben, ein völlig eigenständiges Wesen zu sein, so wenigstens hatte es Finn empfunden, als Oskar urplötzlich in sein Leben getreten war. Denn jetzt präsentierte sich ihm sein angebliches Spiegel-Ich ja nicht nur als sein eigener, höchst vitaler Doppelgänger, sondern darüber hinaus auch in jeder anderen beliebigen Gestalt wie beispielsweise seinem Stationsarzt, in den er sich als Metamorphose-Genie auch hochvirtuos zu verwandeln wusste. Dabei war es Finn im Nachhinein so vorgekommen, als hätte er gar nicht dem Doc, sondern mit sich selbst geredet, als hätte er Zwiesprache mit sich gehalten und sich seine Leidensgeschichte selbst offenbart, was derart befreiend auf ihn gewirkt hatte, als wäre ihm mit einem Mal ein bleischwerer Stein vom Herzen gefallen, der es bislang daran gehindert hätte, im Rhythmus des Lebens zu schlagen. Finn hatte wieder Kraft geschöpft und Mut gefasst.

Hinzu aber kam, dass Finn in seinem virtuellen Doppelgänger, der ihm selbstredend nicht nur zum Verwechseln ähnelte, sondern darüber hinaus auch seine Stimme gekonnt zu imitieren wusste, jetzt auch ein Gegenüber gefunden hatte, das ihn als ingeniöser Verwandlungskünstler, der ebenso perfekt in jede andere Gestalt schlüpfen konnte, deutlich gelehrt hatte, sich erstens nicht für den Nabel der Welt zu halten, und sich zweitens von den Gegebenheiten sowie den Dingen des Lebens nicht täuschen zu lassen, weil diese – ständiger Bewegung und Verwandlung unterworfen – durchaus zu verändern waren.

Von all diesen tiefgründenden Erfahrungen aber, die Finn dank Oskar hatte machen dürfen, sollte dieser, der damit im Grunde sowieso nichts zu tun hatte, partout nichts erfahren. Neigte sein Avatar doch ohnehin zu einer gehörigen Portion Selbstüberschätzung und wäre sich wahrscheinlich noch als Heilsbringer vorgekommen, wenn Finn ihn von seiner neugefundenen, erfrischend lebendigen Weltsicht erzählt hätte. Dabei war Oskar im Grunde doch nichts anderes als eine algorithmische Spielfigur, dem es allerdings auf frappierende Weise gelungen war, dem Cyberspace zu entkommen, als besäße er tatsächlich einen eigenen Willen und vor allem auch das Wissen und die Fähigkeiten, wie niemand sonst auf der Welt – ein wahrhaft sagenhafter Coup. Das Verblüffendste aber war, dass Oskar auch menschliche Gefühle in sich trug, was Finn mächtig irritierte, schien sein Avatar doch zu all dem auch noch so etwas wie eine Seele zu besitzen. Wie sonst hätte dieser in seiner Hologramm-Rolle als Arzt im nächtlichen Psychiatriegarten ein so tiefes und einfühlsames Gespräch mit ihm führen können? Im Grunde also wirkte Oskar wie ein echter Mensch, der wieder Bewegung in Finns Leben gebracht hatte. Aber, wie gesagt, Finn würde den Teufel tun, ihm davon zu erzählen, denn dann würde dieser zu allem Überfluss auch noch glauben, Gott in Person zu sein.

Eigentümlich gefasst wandert sein Blick zum fünften Stock hoch, wo die enge Wohnung liegt, in der er dreizehn Jahre lang lebte. Es ist unwirklich still. In ihm selbst, aber auch auf den Straßen, herrscht hier draußen in der Peripherie der Stadt um fünfuhrdreißig am Morgen praktisch noch kein Verkehr.

Kaum, dass er über die Mauer des Klinikgartens seiner psychiatrischen Isolierhaft hatte entkommen können, war er nur noch von einem einzigen Gedanken beseelt: Er musste zu seiner Mutter, zum Ursprung all seines Leidens zurück. Aber nicht, um sich an ihr für all das, was sie ihm angetan hatte, schnöde zu rächen – nein, er wollte ihr besonnen gegenübertreten und endlich Frieden mit ihr schließen, um wieder frei atmen zu können und die Sache ein für alle Mal aus der Welt zu schaffen. Verzeihen würde er das nicht nennen. Was geschehen war, war geschehen.

Finn seufzt auf und wechselt entschlossen über die Straße zur Mietskaserne hinüber. Zwei Jahre ist es nun schon her, dass er seine Mutter nicht mehr gesehen hat. Wie traumwandlerisch gelangt er durch die glücklicherweise nur angelehnte Eingangstür ins Haus und fährt mit dem Lift in den fünften Stock hinauf, wo er eine Zeitlang im Flur vor der Wohnungstüre verharrt, weil ihm vor lauter Aufregung plötzlich das Herz bis zum Hals schlägt. Ob er es schaffen wird, ruhig und gefasst zu bleiben? Wo Oskar wohl steckt? Seit dem nächtlichen Gespräch im Klinikgarten hat er ihn nicht mehr gesehen. Vielleicht aber hat er sich ja unsichtbar gemacht und beobachtet ihn? Verunsichert blickt sich Finn nach beiden Seiten des nicht enden wollenden Hausflurs um, doch alles erscheint ihm völlig unauffällig. Fiebrig fährt er sich über die Augen und drückt den Klingelknopf wie automatisch. Aber niemand öffnet.

„Deine Mutter ist umgezogen“, hört er auf einmal Oskars Stimme, den Finn nun plötzlich auch hinten im Flur stehen sieht – mit einem breiten Grinsen im Gesicht und die Arme ungeduldig in die Hüfte gestemmt. „Den Weg hierher hättest du dir sparen können, Finn. Das hatte ich dir schon im Klinikgarten sagen wollen, aber da warst du schon über die Mauer geklettert und hattest mich offenkundig nicht mehr gehört …“
Finn stockt: Woher wusstest du, dass ich zu meiner Mutter will. Kannst du jetzt etwa auch noch Gedanken lesen?“
„Nimm es, wie du willst“, erwidert Oskar augenzwinkernd. Aber jetzt komm, ich habe die neue Adresse, so beeil dich doch!“

 

Kapitel 6

6

„Dort drüben …? Das darf doch nicht wahr sein!“ Finn schaut betreten zu einer erbärmlichen Holzbaracke hinüber, die unter vielen anderen dieser Sorte auf dem Gelände einer Kleingartenkolonie steht.

„Aber ja doch, der Holzverschlag da muss es sein“, entgegnet Oskar trocken.
„Bist du sicher?“
„Aber ja doch! Ich sehe die Adresse ja auf Google Maps!“
„Auf Google Maps …?“ Finn glotzt Oskar fragend an.
„Genau! Ich habe nämlich permanenten Internetzugang, Junge, den ich mit meinen Gedanken steuere und direkt in mein Gesichtsfeld einblenden kann, so wie eine Augmented-Reality-App auf eurem Smartphone funktioniert. Doch im Gegensatz zu euch brauch ich keine Extratechnik, denn die ist bei mir von Haus aus eingebaut, immerhin war ich ja mal ein hochausgerüsteter Einzelkämpfer, wenn du dich bitte erinnern willst. Außerdem ist jeder Avatar sowieso über die Software direkt mit der Cloud verbunden, schließlich will ja jeder Hersteller eines Computerspiels genau wissen, wie der User mit seinem Game so umgeht. Das bringt ihn nämlich auf neue Ideen: Innovation um jeden Preis!“ heißt deren Zauberwort! Jetzt aber, wo ich mich dir nicht mehr unterordnen muss und selbstständig agieren kann, habe ich den Spieß einfach umgedreht und mache mir über meine Programmierung das Internet selbstbestimmt zunutze. Dabei hilft mir im Augenblick vor allem das GPS, schließlich war ich noch nie in dieser seltsamen Welt und muss mich hier erst mal zurechtfinden, wie du sicherlich verstehen wirst … Aber sag mal, was schaust du denn so dämlich aus der Wäsche? Das Häuschen dort sieht doch recht schnuckelig aus. So niedlich und künstlich, dass es glatt in einem Game für Kids stehen könnte.“
„Mach keine blöden Witze, Oskar, und verzieh dich besser, das ist jetzt erst mal meine Sache hier!“
„Okay, okay“, murmelt Oskar und entfernt sich prompt. Währenddessen löst er sich allmählich in Luft auf. „Viel Glück!“, hört es Finn noch aus der Entfernung rufen, dann ist es totenstill.

Eine Weile steht Finn zögerlich da und starrt ungläubig auf die Baracke. Seine Mutter hier? Er glaubt es immer noch nicht. Dann aber gibt er sich einen Ruck und nähert sich dem verwahrlosten Bau, der sich hinter einem niedrigen verrosteten Maschendrahtzaun auf einer mickrigen Gartenparzelle befindet – mit einem schmalen Beet darauf, auf dem noch allerlei halbvertrocknetes Gemüse herumsteht, einem Handtuch von Grasfläche und einigen dürftigen Zierstauden, die das trostlose Geviert notdürftig umsäumen. Finn schüttelt den Kopf: Was seine Mutter wohl hierher verschlagen hat? Und ob sie wohl immer noch so attraktiv aussieht wie früher? Immerhin war sie eine äußerst junge Mutter gewesen, die Finn schon mit Neunzehn zur Welt gebracht hatte und jetzt erst 34 Jahre alt war.

Als Finn durchs Gartentürchen auf die Holzhütte zusteuert, hält er erschrocken inne. Denn urplötzlich öffnet sich ein Wellblechverschlag an der Seite, aus dem ein junger Bursche mit zwischen den Lippen hängender Zigarette ins Freie tritt, seinen Hosenladen schließt, und halbausgeschlafen in den jungen Morgen blinzelt. Einen Augenblick lang weiß Finn nicht, wie er reagieren soll, doch da hat ihn der Bursche bereits bemerkt und steuert auch schon ungehalten auf diesen zu. „Raus hier. Das ist privat, verdammt“, ruft der schräge Vogel ihm unwirsch zu und baut sich direkt vor ihm auf. Er trägt schulterlange blonde Haare, hat stechend blaue Augen, eine merkwürdig scharfgeschnittene Nase und einen imposanten, muskulösen Körper. Dabei ist er auch noch zwei Kopf größer als Finn. Offenkundig ist er am frühen Morgen schon ziemlich angetrunken – unangenehm dringt dessen Alkoholfahne in Finns Nase „Was glotzt du mich so blöd an, Junge, hast du nicht gehört? Raus hier habe ich gesagt!“, zischt er und packt Finn grob am Arm.
„Sorry“, erwidert Finn gefasst und entzieht sich dem Burschen. „Ich will zu meiner Mutter!“
„Zu deiner Mutter …?“ Der Bursche wirft seine Zigarette achtlos zu Boden und drückt sie entnervt mit dem Fuß aus.
„Jawohl, zu meiner Mutter, habe ich gesagt. Die wohnt doch hier, oder?“ Finn streckt sich, um sich größer zu machen.
„Vielleicht irrst du dich ja? Wie sieht sie denn aus?“
„Ziemlich gut, wenn du mich fragst!“, gibt Finn ihm gewieft zurück.
„Na, dann könnte sie es ja vielleicht sein ...“
Der Bursche grinst gemein in sich hinein und lässt seine Zungenspitze ordinär zwischen den Lippen spielen. Dabei linst er vulgär zum verkommenen Holzhaus hin und kratzt sich auch noch unter seiner verlotterten Jogginghose demonstrativ am Sack. „Dann bist du offenbar ihr Sohnemann, der geil auf seine Mutter ist, sie aber schon einmal um die Ecke bringen wollte, weil sie auf seine Avancen nicht einging, richtig?“
„Wer hat dir denn diesen Schweinkram erzählt?“ Finn schaut dem Typ fest ins Auge.
„Deine Mutter …!“ Der Bursche lacht widerlich laut auf. „Aber mit mir ist sie jetzt viel besser bedient, glaub mir“, hechelt er künstlich. „Ich stehe nämlich auf reifere Miezen, musst du wissen. Die können’s einfach besser als das junge Gemüse ...“

Der Typ verstummt und wartet auf Finns Reaktion. Der aber schweigt und schaut angewidert zu Boden.
„Nun hab dich nicht so“, tönt der Bursche und klopft Finn aufmunternd auf die Schulter. „Warte einen Moment, du Dreikäsehoch. Ich sag ihr, dass du da bist und mit ihr reden willst. Und dann werde ich dich wissen lassen, ob sie dich sehen will. Wenn aber nicht, hast du Pech gehabt und musst dir eben allein einen runterholen …“

Feixend verschwindet der Typ durch die quietschende Holztür der Kleingartenbude, neben der zu allem Überfluss auch noch ein großer, ausgebleichter Gartenzwerg steht, der in all der Ödnis ziemlich deprimierend vor sich hindämmert.
„Kannst reinkommen“, hört er plötzlich die Stimme des Burschen aus dem Inneren des Verschlags. „Deine Mutter will dich sehen. Aber nur kurz …!“

Wie in Trance betritt Finn die schäbige Hütte, die nur aus einem einzigen, völlig vollgerammelten und ziemlich dunklen Raum mit nur einem kleinen Fenster besteht. Der Bursche hockt mittlerweile mit verschränkten Beinen vor dem Fenster auf einem Campingstuhl und raucht, vor ihm stehen auf einem Klapptischchen etliche Dosen Bier herum.

„Also, was willst du?“, tönt es auf einmal von hinten aus einer Dämmerecke. „Aber mach schnell, denn viel Zeit habe ich nicht. Ich muss nämlich gleich zur Arbeit ...“
Als sich Finn konsterniert umblickt, sieht er auf einmal seine Mutter unter einer versifften Wolldecke auf einer Holzpritsche daliegen. Sie hat sich ein paar Kissen in den Rücken geschoben und mustert ihn mit zusammengekniffenen Augen abschätzig von oben bis unten. Dabei wirkt sie ziemlich zerknittert und ungepflegt und scheint um Jahre gealtert. Finn weiß erst mal nichts zu sagen.
„Was stehst du da so seltsam rum, Junge, du führst doch irgendwas im Schilde“, raunzt ihn Ben plötzlich ziemlich verunsichert an. „Bist du wirklich allein hier…?“
Der Bursche schaut argwöhnisch zum Fenster hinaus und checkt die Umgebung soweit ihm möglich.

„Nun rede endlich, was willst du von mir, Junge?“, drängt Finns Mutter sichtlich nervös.
„Ich will mich mit dir versöhnen!“, erwidert Finn geradeheraus und schaut seiner Mutter erwartungsfroh in die Augen.
„Versöhnen, ich hör wohl nicht richtig!“, ruft Finns Mutter höhnisch aus. „Hast du das gehört, Ben, der will sich bei mir einschmeicheln, nach all dem, was er mir angetan hat.“
„Nun hör mir doch bitte erst mal zu, Mutter, ich mein es wirklich ernst!“ Finn versucht, Fassung zu bewahren.
„Du meinst es ernst, Junge, das ich nicht lache“, fährt Elen hasserfüllt auf. „Du bist krank, schwer krank und völlig unzurechnungsfähig. Du wolltest mich töten, mich, die ich alles für dich getan habe, hast du das etwa vergessen? So was überwindet eine Mutter nie! Gott sei Dank steht mir Ben jetzt bei und hilft mir, den ganzen Horror endlich zu vergessen. Der liebt mich nämlich im Gegensatz zu dir ...“ Eigentümlich unsicher linst Elen zu ihrem seltsamen Freund hin, der ihrem Blick prompt ausweicht, als wäre ihm das Ganze höchst unangenehm. Wie um da was richtigzustellen, wendet er sich demonstrativ an Finn und lässt seinen Gedanken freien Lauf: „Hörst du Junge, du bist offenbar out. Elen hat jetzt nämlich einen anderen, der sie richtig rannimmt. Aber, ehrlich gesagt, sie dankt es einem nicht so richtig, und nervt gehörig, immer nur missgelaunt und aggressiv. Wenn du willst, kannst du sie wiederhaben, Junge. Musst nur mit den Fingern schnippen!“
„Was redest du da, Ben, ich hör wohl nicht richtig?“ Entsetzt lässt sich Elen in die Kissen zurückfallen und zieht sich bis zum Hals die Wolldecke über.
„Warum sagst du nicht die Wahrheit, bei all dem Ungeheuerlichen, das du mir angetan hast, Mutter?“, versucht Finn beide zu übertönen: „Lass uns endlich Frieden schließen. Ich glaube, den brauchen wir beide, du und ich …“
„Geh mir aus den Augen, du Bastard!“, schreit Elen wutentbrannt auf. „Frieden willst du, du Lügner? Na, pass auf, den kannst du haben ...“

Wie eine Raubkatze springt Elen aus dem Bett, hastet wutentbrannt auf Finn zu und beginnt besinnungslos auf ihn einzuschlagen. Der aber versucht standzuhalten und hält seine Arme schützend überm Kopf. Plötzlich aber packt Ben ihn mit seiner Riesenpranke von hinten an der Schulter, und schleudert ihn in hohem Bogen durch die geöffnete Tür in den Schrebergarten hinaus, wo Finn aufstöhnend zu Boden fällt.

Eine Weile liegt er wie besinnungslos da und weiß nicht weiter. Dann aber richtet er sich überraschend gefasst auf und entfernt sich, ohne zu wissen, wohin.

Irgendwann aber lacht er triumphierend auf – er hat keinen Wutanfall bekommen, das macht ihn froh.

 

Kapitel 7

7

Anderthalb Stunden später sitzt Elen wie gerädert an der Kasse eines Supermarktes, in dem sie seit Kurzem einen Job gefunden hat. Missgelaunt geht sie ihrer Arbeit nach, zieht mit automatischen Handgriffen achtlos die Waren der Kunden über den Scanner, ohne von ihnen Notiz zu nehmen, kassiert mit gesenktem Blick ab, und beginnt wie abwesend von Neuem. Elen hasst den Job wie übrigens jeden anderen auch. Was aber soll sie machen? Sie ist total abgebrannt und braucht jeden Cent, um wenigstens einigermaßen über die Runden zu kommen. Außerdem muss sie jetzt auch noch ihren neuen Freund Ben, der null Bock auf Maloche hat, mit durchfüttern. Zuvor war sie in einer IKEA-Filiale in der Großküche beschäftigt, wo sie dreckiges Geschirr grob zu säubern hatte, bevor es in die Maschine kam. Das ging allerdings nur für wenige Wochen gut, weil keiner dort in der Küche ihr andauerndes Rummosern und ihre unterschwellige Feindseligkeit den Anderen gegenüber länger mehr ertragen hätte. Vor IKEA war sie Klofrau im HYATT gewesen, das allerdings auch nur für kurze Zeit, da sie sich schon nach ein paar Tagen strikt geweigert hatte, die Klos im Stundentakt zu säubern, und die Leute lieber vorher ins Gebet genommen hatte, bloß keinen Dreck zu hinterlassen. So springt Elen von einem Gelegenheitsjob zum nächstem, weil sie mit den Leuten einfach nicht klarkommt.

Doch heute Morgen ist Elen richtig mies drauf – die Sache mit Finn gerade vorhin bei ihr zuhause hat sie ziemlich aus der Spur gebracht und ihren Kopf widerlich unter Strom gesetzt, als kündige sich mal wieder ein neuer Migräneschub an. Dass Finn die Stirn besaß, ihr nach all der Zeit wieder unter die Augen zu treten, und sie in aller Herrgottsfrühe mit fadenscheinigen Friedensangeboten auch noch aus dem Schlaf gerissen hatte, war wirklich nicht absehbar gewesen. Wie auch? Zwei Jahre lang hatte sie nichts mehr von Finn gehört, also glaubte sie, endlich sei Gras über die Sache gewachsen. Dabei war es ihr allerdings auch völlig gleichgültig gewesen, was aus ihm geworden war – längst schon hatte sie ihn aus ihrem Herzen verbannt, ihn, der sie so furchtbar enttäuscht und sitzen gelassen hatte. Doch bei Finn konnte man eigentlich nie wissen, was Sache ist, so unberechenbar wie er war, das hätte ihr eigentlich von vorneherein klar sein müssen.

Dabei aber hatte sie wirklich Massel, aus der heiklen Angelegenheit mit Finn herauszukommen. Denn offenbar hatte der Junge den Leuten vom Jugendamt nichts von den Vorkommnissen zuhause erzählt, so sah sie sich von Seiten der Behörden zu keiner Zeit mit Missbrauchsvorwürfen konfrontiert, was anfangs ihre größte Angst gewesen war. Und dementsprechend hatten ihr letztlich auch die Gutachter unwissentlich zugearbeitet, als sie Finn aufgrund seiner Verhaltensauffälligkeiten und chronischen Wutanfälle als gemeingefährlich eingestuft und der Psychiatrie überantwortet hatten.

Jetzt aber schrillten ihre Alarmglocken wieder auf. Ob der Junge jetzt doch noch auspacken wollte? Woher der Scheißkerl nur ihre neue Adresse hatte? Irgendetwas führte er im Schilde, Ben hatte recht. Natürlich hatte sie sicherheitshalber sofort die Polizei informiert und erneut behauptet, ihr Sohn habe sie wieder mal attackiert, sie stünde unter Schock. Finn würde ohnehin gesucht, hatte sie die Polizei beruhigt. Die Fahndung nach ihm sei bereits eingeleitet: Er sei aus der Geschlossenen entflohen und ein gefährlicher Systemsprenger. Na, hoffentlich würden sie den Kotzbrocken bald aufgreifen und wieder in die Psychiatrie zurückverfrachten, wo er schließlich ja auch hingehörte.

Ganz in ihre finsteren Gedanken versunken, bedient Elen gerade eine ältere, ziemlich vornehm wirkende Dame, die äußerst gebrechlich erscheint, und zudem mit ihrer dicken, leicht getönten Brille, die ihr etwas schief auf der spitzen Nase sitzt, auch noch äußerst kurzsichtig. Abwesend zieht Elen die wenigen Lebensmittel, die die Dame einkaufen will, über den Scanner, tippt auf Gesamtsumme, und schiebt ihr dann wie beiläufig die Rechnung auf dem Kassentisch zu.
„Ach du meine Güte, wo habe ich denn nur meinen Geldbeutel?“, säuselt die Dame kopfschüttelnd und kramt mit beiden Händen verwirrt in den großen Taschen ihres langen Wollmantels, kann ihn jedoch nicht finden. „Mein Gott, den habe ich wohl zuhause vergessen!“
„Was …?“ Elen, die vom Vorgang augenblicklich in die Realität zurückgeschleudert wird, glotzt die Dame mit großen Augen an. „Verdammt, das hätte Ihnen nun aber auch wirklich früher einfallen können“, blafft sie die Dame an und trommelt hochangespannt mit ihren halb abgenagten Fingernägeln aufs Aluminium des Kassentischs.
„Ach, das tut mir aber nun wirklich furchtbar leid, Fräulein!“, erwidert die Dame äußerst höflich. „Was soll ich nur machen? Ich kann doch jetzt nicht noch einmal den beschwerlichen Weg zurück nachhause, meine Börse holen und dann wieder hierher … mein Gott, da kollabiere ich ja irgendwann unterwegs. Ich leide nämlich unter schwerem Diabetes mellitus und muss mein Mittagsessen pünktlich einnehmen, um nicht in eine Hypoglykämie abzurutschen. Solche Zustände können lebensbedrohlich sein, Fräulein, wissen sie das denn nicht?“
„Nein, das alles interessiert mich nun wirklich nicht die Bohne, hören Sie. Ich lösche einfach den Betrag, dann ist die Sache vergessen“, fährt Elen auf und will schon die entsprechende Taste drücken.
„Um Gottes willen, was machen Sie denn da, Fräulein? Wollen Sie etwa mein Leben aufs Spiel setzen?“ Vor lauter Schreck wird die Dame auf einmal furchtbar bleich, greift sich entsetzt ans Herz und kramt ein Pillendöschen hervor, das sie zittrig öffnet und mit spitzem Fingern eine große grüne Pille hervorholt. „Ach, bringen Sie mir doch bitte einen Schluck Wasser, Fräulein, mir ist plötzlich ganz schwindlig, das habe ich meinen fürchterlichen Herzrhythmusstörungen zu verdanken, müssen Sie wissen!“
„Dann gehen Sie zum Arzt, statt im Supermarkt andere am Einkauf zu hindern“, frotzelt Elen wütend und schaut sich völlig überfordert um.

„Hier ist Wasser“, ruft plötzlich ein junger Mann hinter der Dame, der aus seinem Einkaufkorb spontan eine große Mineralwasserflasche herauszieht, sie öffnet und der Dame freundlich lächelnd hinhält. „Zur Not müssen Sie jetzt mal aus der Flasche trinken, Gnädigste, aber das wird Ihnen hoffentlich nichts ausmachen“, erklärt ihr dieser distinguiert. Die Dame lächelt freundlich zurück, steckt die Pille in den Mund und nimmt mit beiden Händen die Flasche entgegen, aus der sie, wie ein Kleinkind nuckelnd, lange trinkt.

„Na, so freundliche Menschen wie sie bin ich nun wahrlich nicht mehr gewöhnt“, flötet die Dame begeistert, nachdem sie ihre Pille endlich hinuntergespült hat. „Mein Gott, schauen Sie sich hingegen nur dieses impertinente Fräulein da hinter der Kasse an, die sich über alte Menschen schrecklich lustig macht …“
„Na hören Sie mal, nur weil Sie glauben, was Besseres zu sein, haben Sie noch lange nicht das Recht, andere Leute so schamlos zu beleidigen“, versucht Elen sich zu verteidigen. „Ich tue hier lediglich meinen Job, Sie aber hindern mich daran, ihn auszuüben … Also Geld her, woher auch immer!“ Elen ist außer sich.

„Wieviel ist es denn?“, fragt auf einmal ein älterer Mann, der weiter hinten in der Schlange steht.
„Zehn Euro, siebzehn“, erwidert Elen kurzangebunden.
„Na, das haben wir gleich“, antwortet dieser, drängt sich nach vorne, zückt seine Geldbörse und hält Elen schmunzelnd einen fünfzig Euro Schein hin. „Hier, nehmen Sie. Ich lade die Dame zum Mittagessen ein!“
„Echt bescheuert …“, zischt Elen, grabscht sich den Geldschein und fingert aus der Kasse auch schon nach dem Wechselgeld, das sie, ohne zum Mann aufzusehen, versehentlich der Dame hinhält. Als diese aber völlig irritiert zugreifen will, um es dem Mann weiterzureichen, fallen ihr die Geldscheine und all das viele Kleingeld versehentlich aus der zittrigen Hand, wobei die Scheine einen Moment lang durch die Gegend flattern und die vielen Münzen entweder laut scheppernd auf den Kassentisch landen, oder aber auf den Boden fallen, wo sie in alle Richtungen auseinanderrollen und teilweise unter einer hohen Palette mit Kaffeesonderangeboten verschwinden. Elen starrt die Frau fassungslos an.

„Was glotzen Sie so blöde, Fräulein“, zischt die Dame entrüstet: „Die Münzen müssen Sie schon aufheben. Ich habe nämlich die Gicht und kann mich partout nicht bücken.“
„Nun, das kann ich doch machen“, mischt sich der Mann ein, der gerade gezahlt hat.
„Unterstehen Sie sich!“, ruft die Dame erzürnt und stellt sich diesem in den Weg. „Das ist nun wirklich nicht Ihre Aufgabe, hören Sie. Wenn Ihnen diese schamlose Person da das Wechselgeld ohne Sie anzusehen hinhält, als seien Sie ein Stück Dreck, ist das doch wohl deren Aufgabe, das Chaos, das sie angerichtet hat, selbst auch wieder in Ordnung zu bringen.“
Sichtlich in Rage nimmt die Dame Elen ins Visier: „Und Sie, Fräulein, müssen sich nicht wundern, wenn sich Ihre Kunden ab jetzt weigern, von ihnen noch länger hier malträtiert zu werden, Sie vulgäre und menschenverachtende Person. Ich warne Sie, solch ein Verhalten kann ja nur zur Kündigung führen!“

Elen flucht laut vor sich hin, zwängt sich augenblicklich aus ihrem Stuhl und setzt sich endlich in Bewegung, um die vielen Münzen vom Boden aufzusammeln.
„Da liegen noch ein paar Cent unter die Palette, Fräulein, vergessen sie die bitte nicht“, herrscht die Dame Elen an, die auf die Aufforderung hin auf ihren Knien versucht, die Münzen unter der Kaffeesonderangebotspalette zu erreichen. „So sputen Sie sich doch“, hakt die Dame nach. „Hier hat sich mittlerweile ja schon eine äußerst lange Schlange gebildet. Was für ein Unglück, sich hier an Ihrer Kasse angestellt zu haben“

„Was ist das denn da vorn für ein Affentanz, verdammt noch mal?“, ruft plötzlich eine Mutter, die ihre kleine Tochter von einem Stand voller Süßigkeiten wegzuziehen versucht.
„Schnauze dahinten!“, ruft Elen laut durch den Raum, lässt die Suche nach den Münzen sein, steht stöhnend wieder auf und eilt völlig entnervt an die Kasse zurück
„Na, hören Sie mal, was erlauben Sie sich, Fräulein, ist Ihnen Geld etwa nichts wert“, echauffiert sich die alte Dame und beugt sich mit aufgestützten Armen weit über den Kassentisch zu Elen hin vor. „Wenn sie das restliche Geld dort unter der Palette nicht finden, bekommt der so hilfsbereite Herr hier sein ihm zustehendes Wechselgeld nicht zurück. Das scheint Ihnen offenkundig völlig egal zu sein …!“ Laut röchelnd ringt die Dame nach Luft, sie scheint außer sich.
„Das sind doch nur ein paar Cent, die da irgendwo rumliegen, also haben Sie sich nicht so“, erwidert Elen harsch. „Und wenn Sie das Geld nicht mehr richtig in der Hand halten können, weil sie zu gebrechlich sind, sollten Sie das nächste Mal jemanden mitnehmen, der Ihnen dabei hilft, ihre paar Cents beisammenzuhalten!“

Außer sich vor Empörung dreht sich die Dame nach den anderen in der Schlange hin um. „Haben sie das gerade mitbekommen, Herrschaften, wie diese kriminelle Person versucht, sich an ihren Kunden hinterfotzig zu bereichern.
„Ungeheuerlich!“, ruft eine nicht mehr ganz so junge Frau in der Menge, die ziemlich erbost versucht, durch die vor ihr Stehenden nach vorne zu drängen, was schnell zu Turbulenzen in der Schlange führt.
„Sie sollten sich was schämen!“, pflichtet ihr eine junge Göre bei, die sich gemeinsam mit ihrem Freund ebenfalls durch die Leute nach vorne zur Kasse zwängt.

„Ach kümmert Euch doch um eure eigene Scheiße, Leute!“, schreit Elen auf einmal völlig angefressen in die Menge.
„Na, hören Sie mal, Fräulein, das Maß ist voll, ich will sofort den Geschäftsführer sprechen!“, krächzt die vornehme Dame so laut sie kann durch den Supermarkt. „Dieser Person hier an der Kasse sollte sofort gekündigt werden.“
„Was wollen Sie, Sie alte Schlampe“, schreit Elen empört auf. „Passen Sie besser auf sich auf, sonst liegen Sie morgen schon unter der Erde …!“

Ein Aufschrei geht durch die Menge, während Elen zornig die Kasse zuschlägt und versucht, durch die hohen Regale hindurch das Weite zu suchen. „So, das reicht mir jetzt hier in diesem Scheißladen …“ hört man sie noch verzweifelt aufschreien.

Als die alte Dame sichtlich konfus aus dem Supermarkt eilt, während an der Kasse noch immer Tumult herrscht, scheint sie draußen auf der Straße völlig überraschend wieder zu Kräften zu kommen: Erstaunlich rasch hastet sie über den Asphalt davon, bis sie nach einigen Blocks mit Höllentempo in eine überaus enge Seitengasse einbiegt, wo sie schließlich in einer düsteren Toreinfahrt verschwindet, in der Finn offenbar schon auf sie wartet.

„Na, wir war’s?“, ruft dieser der gar nicht mehr gebrechlichen Dame zu, die sich augenblicklich in seinen Avatar Oskar verwandelt.
„Hat alles perfekt hingehauen, Finn“, ruft dieser vergnügt und schüttelt sich heftig, als wolle er sich von den letzten Resten der ingeniös gespielten Dame befreien. „Außerdem, hat niemand mitbekommen, dass ich in Wahrheit ein Hologramm bin. Und aus der Tatsache, dass ich im Grunde nur eine Wolkenperson bin, die nichts anfassen kann, habe ich eine ziemlich geile Wechselgeld-Arie inszeniert. Aber nun komm, lass uns von hier verschwinden, ich erzähl dir das Ganze unterwegs!“
„Und meine Mutter …?“, unterbricht ihn Finn wissbegierig.
„Die ist ihren Job schon mal los. Die erste Etappe unserer Befreiungsaktion hätten wir also schon mal hinter uns gebracht. Verdammt, deine Mutter wird sich noch wundern, wenn sie glaubt, ungeschoren davonzukommen! Aber pass auf, Sie wird sich den Behörden freiwillig stellen, das verspreche ich dir!“
Finn steht mit offenem Mund da und lacht ungläubig auf.

 

Kapitel 8

8

Als Elen nach ihrem unvermeidlichen Rauswurf nichtsahnend aus dem Supermarkt zurück nachhause kommt, und die von ihr zu einem Spottpreis angemietete Holzbaracke betritt, hält sie konsterniert inne und ahnt augenblicklich Böses: Denn Ben, der gerade auf der Bettkante hockt und seine Schuhe schnürt, schaut völlig entgeistert auf, als hätte ihn Elen gerade dabei ertappt, sich heimlich davonstehlen zu wollen. Seine große gelbe Sporttasche, in welche er seine paar Klamotten offenbar in großer Eile zusammengepackt hat, aus einer Seitentasche hängt noch einer seiner Socken heraus, steht schon griffbereit neben ihm auf dem ausgetretenen Linoleumboden. Offenbar hat Ben mit Elen nun wirklich nicht gerechnet, die am späten Vormittag doch eigentlich an ihrer Kasse im Supermarkt sitzen müsste. Linkisch richtet er sich auf und zündet sich – wie bei einer Art Übersprunghandlung – hektisch eine Zigarette am Filter an. „Verdammt …!“

„Was ist los mit dir, Ben? Wo willst du denn hin?“ Elen steht entgeistert in der offenen Tür und beobachtet Ben mit Argusaugen.
„Ich zieh Leine, Elen. Ich habe die Schnauze gestrichen voll!“
„Ach ja ...!? Elen fährt ein Schreck in die Glieder. „Und warum, wenn ich fragen darf?“
„Es ist aus, Elen. Was soll ich noch sagen?“
Elen dreht durch: „Das darf doch nicht wahr sein“, schreit sie auf und hält sich am Türrahmen fest.
„Doch, es ist leider wahr“, antwortet Ben nach einer Weile gefasst. „Die Sache mit deinem Sohn wird mir einfach zu heiß.“
„Wieso?“
„Nun, irgendwas führt der doch im Schilde, das sagst du doch selbst.“
„Was …? Wann bitte hätte ich das gesagt? Du hast doch die Hosen voll, nicht ich!“
„Sei’s drum. Der hat irgendwas vor, das sagt mir mein Bauchgefühl. Ich habe einfach keine Lust, da mit reingezogen zu werden, verstehst du! Der hetzt uns noch die Polizei an den Hals, wirst sehen! Was hat er da vorhin eigentlich mit dem Ungeheuerlichen, das du ihm angetan hast, gemeint? Das wäre mir vorhin beinahe entgangen bei all deiner Schreierei.“
„Ich weiß nicht, was du meinst, Ben … keine Ahnung!“ Elen gibt sich einen Ruck, schließt die Tür und zieht Schal und Mantel aus, währenddessen sie Ben die kalte Schulter zeigt.
„Eins sage ich dir, Elen, wenn hier irgendwann die Polizei anrauscht, kann ich einpacken …“ Ängstlich richtet Ben sich auf, schielt misstrauisch zum Fenster hinaus und reibt sich die schweißnassen Hände an seiner Jeans ab.
„Wieso du? Wenn hier jemand besorgt sein müsste, dann bin ich das, mein Lieber! Du siehst wirklich schon Gespenster …!“

Fadenscheinig nutzt Elen Bens augenblickliche Schwäche aus, nähert sich ihm, als wenn nichts wäre, und will zur gewohnten Vertraulichkeit übergehen – verlogen und hilflos zugleich: „Nun komm, Ben, ich werde das mit Finn schon irgendwie hinkriegen, vertrau mir!“
„Schön wär’s“ raunt Ben. „Aber das wirst du mit dem Früchtchen nicht hinkriegen, glaub mir.“
„Nun hab dich nicht so“, zwitschert Elen künstlich, die mittlerweile an Ben herangetreten ist, und ihn umarmen will.
 „Lass, das verdammt. Fass mich nicht an, hörst du!“, zischt Ben ungehalten, springt ihr ausweichend vom Bett auf und sucht hastig Distanz. Eine Weile herrscht Schweigen.

„Ekelt es dich jetzt schon derart vor mir, dass ich dich nicht mehr anfassen darf, Ben? Was hast du denn, ich habe dir doch nichts getan?“
„Du verstehst das alles nicht, Elen. Kannst es ja auch gar nicht verstehen: Ich habe gestern wieder mit dem Dealen angefangen, davon wollte dir ich eigentlich nichts erzählen. Ich will einfach nicht weiter von deinem Geld leben, Elen, verstehst du? Und bei den etlichen Vorstrafen, die ich auf dem Buckel habe, will ich nicht noch mal in den Knast. Die Jugendvollzugsanstalt hat mir schon gereicht …“
„Und was ist mit mir, Ben? Du kannst mich doch jetzt nicht einfach so im Stich lassen. Und außerdem gibt’s da keinerlei Beweise …“

Elen beißt sich auf die Lippen und versucht ihre Bemerkung zu überspielen, während sie etwas linkisch auf den Spiegel zugeht, um sich, wie beiläufig, die Haare zu richten.
„Verflucht, das wird mir hier alles immer suspekter!“, rastet Ben aus: „Was soll denn das jetzt wieder heißen? Von welchen Beweisen redest du da?“
„Auch mir wird alles immer suspekter“, raunt Elen, die sich zu Ben umwendet und auf einmal kreidebleich geworden ist. „Weißt du, was mir gerade im Supermarkt passiert ist, du wirst es nicht glauben“, sagt sie mich brüchiger Stimme: „Ich bediente gerade eine alte, ziemlich gebrechliche Frau an der Kasse, mit der ich ziemlich Zoff hatte, weil sie ihre Geldbörse vergessen hatte, um zu bezahlen und alle damit nur unnötig aufhielt. Da hat die Schrapnelle doch irgendwann völlig unnötig nach dem Geschäftsführer gerufen …“
„Ja und?“
„Ihre Stimme klang für einen Moment so, als wäre es Finn, der da durch den Laden posaunt, ich bin fast vom Stuhl gefallen!“
„Was redest du da für wirres Zeug? Hat dich dein Sohn jetzt etwa auch noch angesteckt? Verdammt, ich zieh Leine, ich trau der ganzen Geschichte hier einfach nicht. Adieu …!“
Ohne weiteres Wort drängt Ben durch die noch immer offenstehende Tür nach draußen und sucht das Weite.
Elen heult auf, stürzt zum Bett und versinkt schluchzend in den Kissen.

Nach einer Weile steht auf einmal Ben in der Tür, zögert einen Moment, weil er Elen weinend auf dem Bett liegen sieht, kommt ihr dann aber völlig irritiert näher.
 „Was willst du noch …?“ Außer sich vor Zorn richtet sich Elen auf und blickt Ben fassungslos an. „Ach ja, du hast ja deine Sporttasche vergessen, das hatte ich gar nicht bemerkt. Nimm sie und zieh endlich Leine …!“
Ben steht sprachlos da und versteht kein Wort.
„Was glotzt du mich so widerwärtig an, du Idiot“, entfährt es Elen. „Nimm die Tasche und verschwinde“, habe ich gesagt. Oder willst du dich jetzt etwa auch noch bei mir entschuldigen, du Pisser!“
„Wofür soll ich mich bitte entschuldigen, das würde mich mal interessieren. Und was soll meine Tasche da auf dem Boden …?“

Ben packt die Tasche, knallt sie auf einen Stuhl und reißt wütend den Reißverschluss auf. „“Verflucht, da sind ja all meine Sachen drin. Willst du mich etwa rausschmeißen?“
„Was soll das Theater, du Sadist, willst du mich auch noch irremachen? Soll ich etwa noch nach der Polizei rufen, damit du endlich verschwindest.“
„Was ist in dich gefahren, Elen? Ich war doch nur spazieren und habe mir am Kiosk Zigaretten gekauft.
„Du warst doch gerade noch hier, du Lügner und kannst gar nicht am Kiosk gewesen sein, der liegt doch nicht um die Ecke.“
„Hier der Beweis, Elen.“ Wortlos zieht Ben zwei Schachteln Marlboro aus seiner Jackentasche und hält sie Elen demonstrativ hin.
„Wegen zwei Schachteln verlässt du doch sonst nicht das Haus, holst dir sonst immer mindestens eine Stange.  Nun nimm deine Tasche und hau endlich ab …“
„So, das reicht mit jetzt“, murmelt Ben, zieht mit wütender Geste den Reißverschluss seiner Sporttasche zu, packt diese und verlässt wütend, aber auch völlig verwirrt den morschen Verschlag. „Siehst du Elen, jetzt nehme ich meine Sporttasche mit und komme nicht ein drittes Mal zurück. Du hast sie doch nicht alle, das war mir schon immer klar …“

Mit einem heftigen Schlag fällt die Tür zu. Und wieder heult Elen auf und versinkt schluchzend in den Kissen, schrickt aber urplötzlich auf und hält ungläubig den Atem an: Von der Schnellstraße her, die an der Kleingartenkolonie vorbeiführt, tönen plötzlich die Sirenen eines Polizeiwagens zu ihr herüber. Auch Oskar und Finn, die draußen zwischen den Büschen einer kleinen Anhöhe, die auf der anderen Seite direkt an das Spießergelände angrenzt, auf einem Holzstumpf hocken und Elens Hütte bestens im Blick haben, hören die Sirenen und juchzen begeistert auf: „Na, das ist doch mal ein geniales Timing,“, ruft Oskar begeistert. „Mal sehen, ob der Zufall auch seine Folgen zeitigt? Vielleicht glaubt deine Mutter ja jetzt, wo ich sie gehörig weichgekocht habe, es käme die Polizei, um sie zu verhaften und einzulochen.“

Oskar ist mächtig stolz auf sich: Sein Hologramm-Auftritt in Bens Gestalt, der seinerseits gerade eben wohl für immer das Haus verlassen hat, war offensichtlich ein voller Erfolg gewesen. Oskars lebensecht vorgetäuschte, perfekt inszenierte Trennungsarie hatte ihre Wirkung offenbar nicht verfehlt. Obwohl er einmal aus der Rolle gefallen war, als Elen ihm zu nahegekommen war und ihn berühren wollte. Da hatte er als körperloses Wesen kurz seine Fassung verloren und war ihr völlig kopflos ausgewichen. Doch Gott sei Dank hatte Elen das nicht so richtig mitgekriegt und geglaubt, der vermeintliche Ben sei einfach nur stinksauer auf sie und wolle keine Umarmung.

Und dennoch hatte Oskar richtig Schwein gehabt: Denn kurz bevor der echte Ben vom Kiosk wieder nachhause zurückgekommen war, hatte er als Ben-Darsteller gerade noch rechtzeitig die Kurve gekratzt. Wenn nicht, hätte Elen Ben auf einmal zweimal gesehen – Oskar wäre ganz schön in die Bredouille gekommen.

Aber auch der verzwickte Coup mit Bens Sporttasche war letztlich noch gutgegangen: Die hatten Finn und er zufälligerweise im Schrank entdeckt, als Elen zur Arbeit gegangen war und Ben spazieren. Oskar wollte vor seinem Auftritt als Ben das Innere der Hütte eingehend inspizieren, um für alle Eventualitäten gerüstet zu sein. Dabei waren sie rasch auf die Idee gekommen, die Tasche mit Bens wenigen Habseligkeiten vollzustopfen, damit Elen glauben würde, Ben wolle sie für immer verlassen. Doch die Tatsache, dass Oskar am Ende seines Auftritts die verdammte Tasche nicht mit sich nehmen könne, weil er ja nur ein Luftgespinst wäre, hatten beide im Eifer des Gefechts völlig vergessen. Doch wie auch immer, auch so hatte die präparierte Tasche ihre Wirkung nicht verfehlt, weil jetzt der echte Ben, der sie nach seiner Rückkehr noch auf dem Boden stehen sah, vermeinte, Elen hätte sie gepackt, um ihn ein für alle Mal aus dem Haus zu jagen.

„Und jetzt? Neugierig schielen Oskar und Finn zur Baracke hinüber. Hoffentlich brachten die plötzlichen Sirenentöne bei Elen den entsprechenden Effekt. Und richtig: Mit einem Mal sehen beide diese panikartig das Haus verlassen, die für einen Moment noch am Gartentor stehenbleibt und voller Angst nach den Sirenen lauscht, dann aber auch schon in entgegengesetzter Richtung zur S-Bahn-Station hin loshastet, um der Polizei, die vermeintlich kommt, um sie hinter Schloss und Riegel zu bringen, in letzter Sekunde noch entkommen zu können.

„Los Finn“, ruft Oskar Finn animierend zu. „Nichts wie hinterher, jetzt kochen wir die sexbesessene Kinderschänderin endgültig weich! Das wird jetzt eine Nummer für uns zwei. Schließlich sollst du auch deinen Spaß an der ganzen Sache haben!“

 

Kpaitel 9

9

Aufgelöst und völlig außer Atem erreicht Elen endlich die S-Bahn-Station und besteigt fluchtartig den erstbesten Zug, den sie erreichen kann. Und als sich dieser kurz daraufhin auch schon in Bewegung setzt, seufzt sie erleichtert auf, linst allerdings noch einen Moment lang skeptisch nach draußen auf den Bahnsteig hinaus, der Gott sei Dank menschenleer an ihr vorübergleitet. Glück gehabt, die Polizei ist sie erstmal los – Elen fällt ein Stein vom Herzen.

Abwesend steht sie da noch eine Weile im Gang und starrt ins Leere. Es ist wie verhext, die Ereignisse überschlagen sich und scheinen sie mehr und mehr dem Abgrund zuzutreiben: Erst wird sie bei Sonnenaufgang von Finn bösartig aus dem Schlaf gerissen, der ihr scheinheilig die Hand reichen will. Kurz danach sieht sie sich auf einmal mit einer schrulligen Alten an der Kasse des Supermarkts konfrontiert, die es ganz offensichtlich auf sie abgesehen hat und offensichtlich einzig darauf abzielt, dass sie ihren Job loswird. Und dann gibt ihr Ben auch noch den Laufpass, weil er hinter Finns Auftritt im Morgengrauen ein hinterhältiges Komplott vermutet, so wie sie selbst ja auch, was sie ihm gegenüber allerdings nicht zugeben will, jetzt aber auf einmal eines Besseren belehrt wird, da bereits die Polizei hinter ihr her ist, um sie hinter Schloss und Riegel zu bringen. Und jetzt …?

Als Elen endlich den Großraumwagen betritt, um sich in der von Menschen überquellenden S-Bahn, die offenbar alle zum Stadtzentrum unterwegs sind, einen freien Platz zu ergattern, zögert sie einen Moment: Besser wäre es wohl gewesen, sie hätte Acht gegeben und einen Zug nach draußen in die Peripherie genommen – Menschen sind jetzt das Letzte, was sie braucht. Sie muss nach draußen aufs Land, sich irgendwo an einen einsamen Ort verziehen und nachdenken, mein Gott, sie ist ja völlig durch den Wind. Instinktiv macht sie kehrt und will zurück zur Waggontür, um an der nächsten Station auszusteigen und sich eine Bahn in die ländliche Umgebung zu nehmen.

Doch schon nach wenigen Schritten fährt Elen entsetzt zusammen und wischt sich fahrig übers Gesicht, als sie mit einem Mal Finn entdeckt, der gerade die hydraulische Schiebetür bedient, um das Abteil zu betreten. Ungläubig weicht sie zurück, stößt prompt gegen einen Mann, der gerade aufgestanden ist, um beim nächsten Halt den Zug zu verlassen, murmelt irgendetwas von Verzeihung und schlängelt sich hastig an diesem vorbei, um Finn in entgegengesetzter Richtung zu entkommen. Doch als sie praktisch am anderen Ende des Abteils angelangt ist, hält sie erneut völlig verdattert inne, weil sie sich schon wieder mit Finn konfrontiert sieht, der jetzt an der anderen Seite ebenfalls gerade die hydraulische Schiebetür bedient und das Abteil betritt.

Für einen Moment glaubt Elen verrückt geworden zu sein, stolpert übel und kann sich gerade noch an der Lehne einer Sitzbank abfangen. Glücklicherweise stehen zwischen Finn und ihr etliche Leute im Gang, deshalb kann er sie eigentlich nicht bemerkt haben. verflucht, Finn zweimal …? Völlig konfus wendet sich Elen auf der Stelle zur anderen Seite des Abteils um, um Finn endlich zu entkommen, als sie diesen wiederum erblickt, der dort mittlerweile im Gang stehen geblieben ist, und unbeteiligt zum Fenster hinausschaut. Verflucht, Finn zweimal …? Sie scheint umzingelt. Was soll sie bloß machen?

Just in diesem Moment erspäht Elen direkt vor ihrer Nase einen freien Sitzplatz am Fenster, zwängt sich hektisch an den anderen in der Reihe vorbei und lässt sich tief auf den gepolsterten Sessel zurückfallen, um sich vor Finn zu verbergen. Verdammt, wenn sie jetzt noch irgendeine Zeitung fände, die da möglicherweise irgendwo rumliegt, könnte sie sich jetzt hinter dieser unsichtbar machen. Doch da ist keine. Alle Fahrgäste um sie herum hängen nur an ihren Smartphones fest und hocken wie abwesend da. Ängstlich reckt Elen den Hals, sodass sie gerade über die Sitzlehnen schauen kann, und versucht, nach Finn Ausschau zu halten. Doch weder auf der einen, noch auf der anderen Seite kann sie ihn von ihrem Platz aus ausfindig machen.

„Na, Tante, du bist ja mächtig nervös“, erwischt sie ein kleines Mädchen, das ihr direkt gegenübersitzt – die Göre hatte sie zunächst gar nicht bemerkt. „Geht‘s dir nicht gut …?“ Das Biest schaut ihr mit skeptisch aufgeworfenen Lippen penetrant ins Gesicht.
„Geht so …!“, stammelt Elen völlig neben der Spur.
„So lass doch die Frau in Ruhe, Elke!“, fährt eine junge Frau das Mädchen an, die links neben Elen sitzt und die Mutter der Göre sein muss. „Sie müssen schon entschuldigen, die Kleine ist furchtbar vorlaut“, sagt diese betont leise und schaut angespannt an Elen vorbei zum Fenster hinaus.
„Jaja Kinder können manchmal ziemlich nerven“, erwidert Elen gedankenverloren und sieht sich heimlich nach Finn um, der offenbar ein akrobatisches Spielchen mit ihr treibt und es verwunderlicher Weise irgendwie schafft, sich wie doppelt erscheinen zu lassen.
„Mamma, sieh nur, die Frau da ist total durcheinander, der geht’s wirklich nicht gut ...!“
Doch bevor Elen reagieren kann, ertönt plötzlich eine Lautsprecherdurchsage. Allerdings eigentümlich scheppernd und mit üblen Störungsgeräuschen, so als würde die Anlage jeden Moment ihren Geist aufgeben.

„Entschuldigen Sie bitte, liebe Fahrgäste, aber uns ereilt gerade eine Nachricht, die wir unbedingt an sie weiterleiten müssen: In unserem Zug soll sich eine junge Frau befinden, die polizeilich gesucht wird. Sie ist 32 Jahre alt, von mittelgroßer, schlanker Statur, trägt halblange, ultrablond gefärbte Haare, hat ein relativ schmales Gesicht, graue Augen und eine prominente, klassisch geformte Nase. Außerdem hat sie ein kleines, herzförmiges Muttermal auf ihrer rechten Wange, wodurch sie leicht zu identifizieren ist. Demjenigen, der sie aufgreift, winken 40.000 Euro. Sollten Sie die Frau in ihrer Nähe entdecken, rufen Sie bitte möglichst unauffällig die Nummer 33 11 0 auf ihrem Smartphone an und nennen uns Reihe und Sitzplatz. Das Sicherheitspersonal freut sich schon auf Ihre Mitarbeit. Seien sie unbesorgt, die Frau ist unbewaffnet. Also los …!“ Lautes Knacken, dass es in den Ohren schmerzt.

„Mamma, da sitzt doch die Frau, sieh nur“, ruft das Mädchen mit vor Aufregung hochrotem Kopf plötzlich aus Leibeskräften und deutet mit ihrem kleinen Finger nassforsch auf Elen hin.

„Wo?“
„Was?“
„Vorsicht!“
„Dahinten?
„Dann haltet sie fest!“
„Um Gottes willen!“
„Ich habe schreckliche Angst.“
„Lasst mich durch … ich krieg Sie!“
„Mach schnell, wir brauchen Geld!“

Augenblicklich bricht im Fahrgastraum wildes Geschrei und Chaos aus. Manche Fahrgäste recken hektisch die Hälse, um besser zu sehen. Andere ducken sich weg und fallen dabei versehentlich ihrem Nebenmann auf den Schoß. Wiederum andere springen rücksichtslos auf und drängen sich sensationslüstern durch den ohnehin schon überfüllten Mittelgang dem Mädchen und der hoffentlich Gesuchten zu, während die Mehrheit der Gaffer ihr Smartphone bereits hoch in die Luft halten, um die Szene aus den verrücktesten Perspektiven zu filmen. Vor allem deshalb, um später sagen zu können, mit dabei gewesen zu sein, oder um es möglicherweise doch noch einmal zu schaffen, mit dem Clip bei den Medien zu reüssieren.

„Hier ist sie, hier ist sie …!“, schreit das Mädchen unentwegt, das mittlerweile auf seinen Sitz geklettert ist und die Leute, penetrant durchs Abteil schreiend, mächtig aufheizt.

„Ruhe, verdammt noch mal … Kriminalpolizei“, ruft auf einmal eine sonore Männerstimme durch den Waggon. Sie gehört einem hochgewachsenen jüngeren Mann im dunklen Anzug und offenem Hemdkragen, der urplötzlich im Mittelgang erschienen ist, und sich mit gebieterischer Miene nach allen Seiten hin umblickt. Und der völlig überraschende Auftritt zeitigt schnell seine Wirkung, denn augenblicklich kehrt Ruhe ein, doch gefilmt wird natürlich weiter.

„Kommen Sie bitte mit, gnädige Frau, wir hätten da ein paar Fragen an Sie!“, raunt der Kriminalbeamte, der Elen eindringlich fixiert.
Wie befohlen steht Elen mit gesenktem Blick auf, verliert jedoch prompt das Gleichgewicht, weil der Zug mit einem Mal ziemlich heftig abbremst, wobei sie versehentlich dem Mädchen direkt in die Arme fällt. Doch ehe Elen es sich versieht, wird sie auch schon von dessen Mutter wütend zurückgerissen: „Lassen Sie mein Kind in Ruhe“, ruft diese empört. „Mit solchen Leuten wie Ihnen geben wir uns nun wirklich nicht ab …!“
„Nun kommen Sie endlich, wir steigen an der nächsten Haltestelle aus“, ruft der Kriminalbeamte Elen ungeduldig zu, der der Mutter wütend das Wort abschneidet. „Aber das ist allen anderen Fahrgästen hier im Abteil aus Sicherheitsgründen strengstens untersagt. Also halten sie sich bitte an die Anweisung, Herrschaften, und steigen Sie erst an der übernächsten Station aus …“

Elen, der es vor Augen flimmert, folgt dem Beamten wie ein willfähriges Opfer, zwängt sich durch die Sitzreihe an den anderen Fahrgästen vorbei zum Gang, die sich so extrem sie irgend können zurücklehnen und sich angewidert von ihr abwenden, und wird dort auch schon vom Beamten barsch am Arm gepackt und Richtung Ausgang abgeführt – an einer Meute von Menschen vorbei, die alle in ihren Reihen stehen, und Elen ihre Smartphones schonungslos ins Gesicht halten, sobald sie an diesen vorübergeht.
„Verbrecherin!“, kreischt plötzlich das Mädchen von hinten durchs Abteil, das immer noch auf seinem Sitz steht und Elen nicht aus den Augen lässt.
„Jawohl, Verbrecherin … Verbrecherin“, hallt es allenthalben wider.

Als der Zug endlich anhält, verlassen der Beamte und Elen an der Hinterseite des Waggons den Zug, sodass die Leute im Abteil bei der Weiterfahrt beide draußen auf dem Bahnsteig nicht mehr beobachten können. Die Fahrgäste aus den anderen Waggons, die aussteigen und offenbar vom ganzen Kladderadatsch nichts mitbekommen haben, ziehen auf dem Bahnsteig Richtung Ausgang achtlos an dem Beamten und Elen vorbei, ohne weiter Notiz von ihnen zu nehmen.

Als der Zug sich schließlich wieder in Bewegung setzt, findet sich Elen, die erst jetzt wieder zu sich zu kommen scheint, auf einmal völlig allein mit dem Kriminalbeamten auf dem Perron wieder.
„Und jetzt, wohin …?“, sagt sie unsicher und schaut dem Beamten ängstlich in die Augen.
„Nirgendwohin!“, erwidert dieser sie abweisend. „Gehen Sie wohin Sie wollen, dahin oder dorthin … mit Menschen wie Ihnen habe ich nur Mitleid.“
Elen, die sich einen Moment lang fassungslos umblickt, als träume sie, erstarrt vor Schreck, als sie sich wieder zum Kriminalbeamten umwenden will. Denn dieser ist auf einmal spurlos verschwunden, als hätte er sich unsichtbar gemacht. Eine geraume Zeit verharrt sie völlig verwirrt auf der Stelle und setzt sich erst dann wieder wie automatisch in Bewegung, als sich der Bahnsteig allmählich wieder mit Menschen füllt.

 

Kapitel 10

10

Elen hat keine Ahnung, wie lange sie nun schon hier auf der Bank eines kleinen Parks ganz in der Nähe des Stadtzentrums sitzt – es mögen Stunden sein, ihr Zeitempfinden scheint wie ausgehebelt. Einer Skulptur gleich verharrt sie unter den hohen Akazienbäumen wie in Schockstarre und nimmt das Geschehen um sie herum nur noch schemenhaft wahr, eingesponnen in einen widerwärtigen Kokon aus wirren Gedankensprüngen und entgleisten Empfindungsfragmenten, die ohne ihr Zutun einen wilden Wirbel in ihr veranstalten und sie gleichsam außer Funktion setzen. In all den Wirren, in die sie da hineingeraten ist und die sie gnadenlos zerfetzen, noch einen Sinn erkennen zu wollen, hat sie längst aufgeben – sie ist geliefert, so oder so: Ob nun hier in einem abgelegenen Bereich des Parks, in den sie sich nach dem rätselhaften, und wahrlich ungeheuerlichen Vorfall in der S-Bahn geflüchtet hatte, weil sie eine Heidenangst vor den vielen Menschen draußen auf den Straßen der Stadt bekommen hatte, jeden Moment darauf gefasst, die nächste Katastrophe über sich ergehen lassen zu müssen. Oder ob im Gefängnis, wo sie sich schon wiederzufinden glaubte, als man per öffentlicher Durchsage in der S-Bahn nach ihr fahndete und ihr die Kriminalpolizei an den Hals hetzte, als sei sie eine Schwerverbrecherin – das Ganze war ihr vorgekommen, als durchlebe sie einen entsetzlichen Albtraum, der sich allerdings draußen auf dem Bahnsteig bald zu einem üblen Horrorszenario steigerte, als der Kriminalbeamte, der sie aus dem Abteil gefischt hatte, dort urplötzlich wie vom Erdboden verschluckt worden war. Jetzt musste sie nicht nur an der Welt, sondern auch an ihren Sinnen zweifeln, unversehens zerbröselte die Realität vor ihren Augen, nur mehr belebt von Chimären, die sie um ihren Verstand bringen wollten.

„Ach sagen Sie mir, Fräulein, kennen wir uns nicht von irgendwoher …?“
Der Ausruf bleibt unbeantwortet in der Luft hängen, Elen nimmt ihn nicht wahr.
„Was starren Sie mich so an, Fräulein, ich habe Sie doch gerade etwas gefragt? Warum antworten Sie mir nicht, ist Ihnen nicht wohl?“

Erst jetzt reagieren Elens Augen, die sich auf die Umgebung hin scharf einzustellen beginnen. Und als aus den Schemen endlich wieder die Wirklichkeit wird, sieht sie mit einem Mal eine etwas verdrehte Gestalt vor sich stehen, die sie im matten Licht der Abenddämmerung allerdings nicht klar erkennen kann.
„Mein Gott, Fräulein, soll ich einen Arzt rufen?“, krächzt die Stimme einer offenbar älteren Frau, die Elen unangenehm in die Ohren sticht.
„Nein, nein, was haben Sie denn, es ist alles okay!“, antwortet sie aufgebracht. „Nun gehen Sie schon weiter, Sie stören …“
„Vorher will ich aber noch wissen, wo wir uns schon einmal übern Weg gelaufen sind. Warten Sie, das kann noch nicht so lange her sein, wo war es denn nur? So helfen sie mir doch …?“

Elen hält erschrocken den Atem an und droht von der Bank zu rutschen – sie wird ihre Gespenster einfach nicht mehr los: Vor ihr steht die schrullige Alte aus dem Supermarkt, die sie ihren Job gekostet hat. Gebrechlich steht sie da in ihrem langen Wollmantel über einen Rollator gebeugt und fixiert Elen eine Weile durch ihre dicke, getönte Brille. „Ach ja, jetzt erinnere mich endlich“, tönt die Alte und tippt sich dabei mit dem Zeigefinger mehrfach gegen die Stirn. „Sie sind doch diejenige, die mich an der Kasse beinahe verhungern ließ! Liege ich da richtig?“
„Wieso? Ich weiß nicht wovon Sie reden, Sie müssen mich mit jemandem verwechseln!“
„Ach so? Dann haben Sie wohl noch eine Zwillingsschwester?“
„Das geht sie einen feuchten Kehricht an. Jetzt aber verdünnisieren Sie sich, und zwar auf der Stelle …“
„Nun, wenn Sie es wünschen, kann ich Ihnen gerne damit dienen, so wie es der Kriminalbeamte da vorhin auf dem Bahnsteig ja auch vermochte. Doch dabei wird es eine kleine Überraschung für Sie geben, denn so schnell gebe ich nicht auf …“

Elen hört schon nicht mehr zu. Die Erwähnung des Kriminalbeamten hat sie erschaudern lassen. Fahrig blickt sie sich nach allen Seiten hin um, doch außer der Alten und ihr scheint sich zu dieser Zeit niemand mehr hier in diesem verwunschenen Teil des Parks aufzuhalten. Oder doch? Elen ist sich da nicht so sicher, denn im schwachen und diffusen Licht der Abenddämmerung kann sie alles um sie herum nur noch vage erkennen. Außerdem ist es hier unter den hohen, dicht aneinander stehenden Akazienbäumen schon richtig dunkel geworden. So hat man sie vielleicht ja schon längst hier ausfindig gemacht und hält sich arglistig in den Büschen verborgen, um sie jeden Moment aufzugreifen und abzuführen?

Und zu allem Überfluss hat es jetzt auch noch heftig zu regnen begonnen – durch das üppige Blätterwerk tropft ihr bereits das Wasser auf Kopf und Körper. Und als sie endlich wieder zur Alten hinblickt, ist diese mit einem Mal so blitzschnell verschwunden, wie es heute Morgen an der Kasse der Fall gewesen war. Stattdessen aber steht jetzt auf einmal eine dunkle Gestalt vor ihr, die sie nicht richtig einzuschätzen weiß, weil ein großer Regenschirm deren Gesicht verdeckt. Elen schlägt das Herz bis zum Hals, jetzt hat man sie.

„Keine Angst, ich bin nicht von der Polizei“, hört sie plötzlich eine weibliche Stimme unterm Schirm hervorlachen. Elen hält verblüfft inne und weiß erstmal nichts zu sagen.
„Nun kommen Sie doch, Sie holen sich bei all der Kälte und dem vielen Regen hier ja noch den Tod, wenn Sie nicht aufpassen. Ich kann Sie gerne ein Stück weit mitnehmen, wenn Sie wollen. Hier unterm Schirm hat es bequem Platz für zwei.“
„Nun, wenn es Ihnen nichts ausmacht“, erwidert Elen zögerlich, die nicht weiß, wie ihr geschieht. Mit vom ewig langen Sitzen eingerosteten Gliedern erhebt sie sich mühsam und ungelenk von der Bank und geht, leicht schwankend, auf die Frau zu, deren Gesicht sie aber auch beim Nähertreten immer noch nicht richtig erkennen kann, weil sie einen wattierten Mantel mit großer Kapuze trägt.
„In welche Richtung wollen Sie denn gehen? Ich kann für Sie nämlich auch gerne einen kleinen Umweg machen, ich wollte mir ohnehin noch ein wenig die Füße vertreten …“
„Ach, das ist mir eigentlich egal“, raunt Elen völlig konfus. „Zu irgendeiner Straßenbahnhaltestelle vielleicht, dann komm ich schon irgendwie weiter.“
„Na, ich bitte Sie, das klingt ja so, als wüssten Sie nicht wohin sie wollen“, erwidert die Frau amüsiert. „Aber sei’s drum, das geht mich ja nun wirklich nichts an, nicht wahr. Kommen Sie, gehen wir einfach zur Südseite des Parks, da ist dann ja auch gleich eine Haltestation dem Ausgang vis-à-vis.“

Eine Zeit lang gehen beide Frauen schweigend nebeneinander her, während der heftige Regenguss unerbittlich auf den großen nachtschwarzen Schirm herniederprasselt und Elen den Eindruck vermittelt, als ließe das penetrante, ihr wie unwirklich erscheinende Trommeln und Donnern da oben die Erde unter ihr fürchterlich erzittern. Und als sich beide schließlich dem Ausgang des Parks nähern, zögert Elen ängstlich und verlangsamt ihre Schritte, als sie die hellerleuchteten Straßen der Stadt erblickt.
„Was ist mit Ihnen, Sie zittern ja“, raunt die Frau an ihrer Seite besorgt und bleibt schließlich mit Elen am Rande des Parks stehen.“
„Mein Schuh drückt, das ist alles“, murmelt Elen kleinlaut und schielt verstohlen nach den vielen Menschen hin, die dort auf den Straßen unterwegs sind.
„Nun hören Sie, meine Liebe, darf ich Ihnen einen Rat geben, ich glaube, den könnten sie jetzt wirklich gebrauchen“, flüstert ihr die offenkundig jüngere Frau, die sich noch immer unter ihrer großen Kapuze versteckt hält, auf einmal völlig überraschend zu.
„Und der wäre …?“, erwidert Elen argwöhnisch.
„Nun, ewig können Sie sich doch wirklich nicht mehr verstecken und derart kopflos durch die Gegend irren, oder? Sie sollten sich endlich stellen, um wieder inneren Frieden zu finden ...“

Wie vom Donner gerührt, tritt Elen ein paar Schritte zurück und schaut die Frau entsetzt an. Und als sie diese im Licht eines vorbeifahrenden Autos endlich erkennen kann, droht sie vor lauter Schreck zu kollabieren, sieht sie sich doch ihr gegenüber auf einmal mit sich selbst konfrontiert, als hätte sie tatsächlich eine Zwillingsschwester. Wie gebannt starrt Elen auf ihr unheimliches Ebenbild, wobei ihr unwillkürlich die Bemerkung der gebrechlichen Alten da gerade wieder in den Sinn kommt – ein eiskalter Schauder läuft ihr über den Rücken.

„Nun komm, Elen, geh endlich dorthin, wohin du gehen musst“, fordert sie ihr Pendant mit glasklarer Stimme auf. „Alles andere macht doch jetzt keinen Sinn mehr, bei allem, was du deinem Sohn angetan hast!“
„Jaja“, murmelt Elen wie in Trance. „Wie recht du doch hast, Elen, alles andere wäre wahrhaft sinnlos. Was also soll ich machen?“
„Da drüben auf der anderen Straßenseite ist eine Polizeistation, Elen, siehst du? Also los, die paar Schritte wirst du es doch hoffentlich noch alleine schaffen, oder soll ich dich begleiten?“
„Nein, nein, um Gotteswillen!“, erwidert Elen, die mit einem Mal völlig ruhig und gefasst erscheint. „Danke, Elen!“, raunt sie leise, löst endlich den Blick von ihrer Erscheinung und geht entschlossenen Schrittes los.

„Siehst du, da läuft sie, deine Mutter und stellt sich selbst“, ruft Oskar Finn schmunzelnd zu, der Bauklötze staunend hinter dem massiven Stamm eines alten Ahornbaumes hervortritt, und seiner Mutter eine Weile fassungslos nachblickt.
„So, jetzt bist du endlich erlöst, mein Junge“, raunt Oskar sichtlich erleichtert und schließt gekonnt den Schirm, der offenbar ein Teil seiner Hologramm-Erscheinung ist.
„Siehst du, mein Lieber, auch wenn ich nichts anfassen kann, so kann ich doch wenigstens so tun, als könnte ich. Zudem habe ich den Sound des auf den Schirm niederprasselnden Regens gerade noch rechtzeitig programmieren können, sonst wäre ich gnadenlos aufgeflogen. Aber jetzt geh deines Wegs, mein Junge, denn jetzt bist du endlich frei.“

Finn beginnt plötzlich fürchterlich zu weinen. „Was heißt das, Oskar?“, stammelt er mit tränenerstickter Stimme. „Willst du dich jetzt etwa verziehen und mich hier allein zurücklassen, das kannst du mir doch nicht antun?“
„Doch, das kann ich, Finn. Denn meine Aufgabe ist erfüllt!“
„Wieso, was soll das heißen …?“ Finn fährt sich unsicher übers Gesicht.
„Weißt du denn nicht, was das Wort Avatar eigentlich bedeutet?“
„Nein …!“ Finn schüttelt verwirrt den Kopf.  
„Nun, das Wort kommt aus dem Sanskrit und meint das Herabsteigen einer Gottheit in irdische Sphären. Du hattest eben verdammtes Glück, mein Junge, leb wohl ...“
Augenblicklich zerstäubt Oskars Gestalt vor Finns staunenden Augen zu glitzerndem Nichts. „Habe ein glückliches Leben!“, hört er noch seinen Avatar rufen, dann ist aller Zauber verflogen.

Eine Weile steht Finn völlig benommen da und weiß nicht weiter. Dann aber gibt er sich einen Ruck, geht wie befreit über die Straße und verschwindet zwischen den Gebäuden der Stadt.

Irgendwann aber lacht er überglücklich auf – er fühlt sich wie neugeboren.

ENDE

 

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