VOM ENDE EINER ILLUSION
Teil 2

Wie auch immer der russische Vernichtungskrieg gegen die Ukraine ausgehen wird, eines scheint heute schon sicher: Mit diesem katastrophalen historischen Einschnitt ist den westlichen Gesellschaften der Glaube an den Fortschritt wohl endgültig genommen. Obwohl die Überzeugung, es ginge mit den hochzivilisierten Gesellschaften im Prinzip immer nur bergauf, in den Köpfen der Menschen doch bereits vor langer Zeit hätte ins Wanken geraten müssen. Denn schon die erste Weltwirtschaftskrise, welche die noch junge kapitalistische Ökonomie bereits 1857auslöste, hätte sie allemal eines Besseren belehren und dazu veranlassen müssen, beizeiten für ein anderes als dieses extrem riskante und ungerechte Wirtschaftssystem zu sorgen. Erst recht aber die Tatsache, dass diese globale Krise auf das Konto eines einzelnen Mannes ging, der mit seinen aberwitzigen Bank- und Börsenspekulationen die Welt ins Chaos stürzte, und somit bereits früh die Instabilität und Krisenanfälligkeit dieses Wirtschaftssystems offenlegte, hätte sie aufschrecken und handeln lassen müssen.
Edward Ludlow, der besagte Mann, war ein wohl eher unauffälliger Angestellter, der bei der New Yorker Bank Ohio Life Insurance and Trust Company arbeitete. Allerdings machten ihn seine aberwitzigen Spekulationen im Agrar- und Eisenbahngeschäft bald weltberühmt, legte dieser doch mit diesen nicht nur die Ohio Life Insurance lahm, sondern schneeballartig auch die ganze Welt. Mit den heutzutage sattsam bekannten Folgen: Zusammenbruch des Finanzsystems, Geldentwertung und Massenarbeitslosigkeit, Hunger und Not.
Doch an solch ein Desaster hatte Edward Ludlow während seiner rauschhaften Finanzmanöver sicher nicht gedacht. Aber auch im kapitalistischen System gibt es offenbar den berühmten Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. Allerdings setzt dies voraus, dass Ludlow nicht allein im Irrsinn dieser Spekulationsorgie unterwegs war, sondern darüber hinaus auch eine Menge anderer Spekulanten, die mit ebensolcher Geldgier in ebensolche Geschäfte verstrickt gewesen waren – lauter potentielle Ludlows.
In diesem Sinne gleicht die Weltwirtschaftskrise von 1857 der Finanzkrise im Jahre 2008 übrigens ziemlich genau. Denn auch diese hatte ihren Ursprung in einer einzelnen Person, in Richard Fuld nämlich, dem letzten Vorsitzenden und Chief Executive Officer der New Yorker Investmentbank Lehmann Brothers. Vielen sind sicher noch die Bilder der New Yorker Broker in Erinnerung, die, fristlos auf die Straße gesetzt, mit ihren paar Bürohabseligkeiten in Pappkartons eilig das Bankgebäude verlassen und sich hastig und wie ertappt im Getriebe der Stadt verlieren.
In dieser Art und Weise kriecht auch schon 1857 Angst und Panik durch die Straßen von New York, da Ludlow so gut wie jede der dort ansässigen 60 Banken Geld gegeben hat. „Auch jetzt heißt es: Rette sich, wer kann. „Als stünde der Feind vor der Stadt“, spöttelt der Korrespondent des damaligen Frankfurter Aktionärs. In den Straßen rotten sich Menschen zusammen. Noch nicht die verzweifelten Arbeiter, die Jobs und Brot verlangen, sondern die Wohlhabenden: Männer in Gehröcken und Zylindern schwenken schreiend ihre Spazierstöcke. Sie verlangen Gold: Die Banken sollen ihre Papiernoten zurücktauschen. Doch deren Edelmetallreserven reichen nicht. Am 13. Oktober um 1 Uhr mittags stürmen Wechselinhaber und Depositengläubiger wie auf Kommando die Geldhäuser. Binnen Stunden kapitulieren sie alle. Das ist der erste Bankensturm, doch viele werden noch folgen.
Aber nicht nur in Amerika, auch in den meisten der anderen Wirtschaftsnationen war die Konjunktur in den 1850er-Jahren heiß gelaufen. „Die Menschheit war in einen wahren Taumel siegesgewissen Fortschrittsglaubens gerissen worden“, schreibt der Historiker Hans Rosenberg. Es war eine dieser Phasen in der Wirtschaftsgeschichte des Kapitalismus, in denen wieder einmal jede Beschränkung überwunden schien, und die Zukunft gülden, also ohne jedes Risiko. Genauso war es zuletzt in den Jahren vor dem Platzen der Dotcom-Blase im Jahre 2010 gewesen, als die Wirtschaft wiederum so heiß lief, dass sie irgendwann explodieren musste. Ein fataler Kreislauf der Ereignisse, der wieder einmal eigentlich jeden linearen Fortschrittsgedanken im Keim hätte ersticken müssen.
Spekulationsblasen, Bankenzusammenbrüche, Pleiten, all das hatte die Welt bis 1857 schon oft erlebt. Doch die Krise in diesem Jahr übertrifft alles: Wie ein Flächenbrand frisst sie sich über den Globus. Amerika, England, Deutschland, Skandinavien, die früheren Kolonien in Südamerika und selbst Indien geraten in ihren Sog. Die Rezession reißt Banken in den Abgrund, kostet Tausende Unternehmer die Existenz und Millionen Menschen den Job. Und sie schürt die Hoffnung der Systemkritiker wie Karl Marx und Friedrich Engels: dass der noch junge Kapitalismus kollabieren würde und mit ihm das Profitstreben, das die Reichen immer reicher macht, aber die Armen ausbeutet.“
Doch der Kollaps kommt nicht. Obwohl die offenkundige Krisenanfälligkeit des weltumspannenden kapitalistischen Wirtschaftssystems die Gesellschaften und Nationen immer wieder übel in Schieflage bringt. So wie die zweite Weltwirtschafskrise von 1929, die mit dem New Yorker Börsencrash am 25. Oktober 1929 ihren Anfang nimmt, und binnen kurzer Zeit wieder zu einem weltweiten Chaos führt – mit den nun schon bekannten Folgen wie Bankenflops, dem Versiegen der internationalen Finanzströme, mit Unternehmensinsolvenzen, massenhafter Arbeitslosigkeit, sozialem Elend und politischen Krisen. Letztere aber ziehen in Deutschland noch eine andere, wahrlich gespenstische Katastrophe nach sich, führen diese bürgerkriegsähnlichen Zustände dort doch binnen weniger Jahre zum Erstarken des Nationalsozialismus, zu einem Kanzler Adolf Hitler am 30. Januar 1933 und schließlich zum Zweiten Weltkrieg mit 60 Millionen Toten.
Den Kapitalismus aber mit Krise gleichzusetzen, greift nun wahrlich zu kurz, obwohl Krisen im Grunde zu dessen Wesenszügen gehören. Aber dennoch gab es in dessen 250-jährigen Geschichte auch immer wieder Zeiten, in denen die Wirtschaft florierte und boomte. Wie sonst hätte aus diesem Wirtschaftssystem ein Weltmodell werden können? Doch selbst den prosperierenden Phasen haftete oftmals etwas Hektisches und Überheiztes an, so als gäbe es für die wildgewordene Ökonomie auf einmal keinerlei Regel mehr und alles wäre jetzt möglich.
In diesem Sinne scheint der Kapitalismus von Hause aus zu den Extremen zu neigen. Völlig überhitzte Hochphasen, in denen die Gewinne ins Unermessliche steigen, wechseln sprunghaft mit solchen, in denen allgemeine Flaute herrscht, weil die Wirtschaft lahmt. Im Grunde ist der Kapitalismus den Gesellschaften und Nationen ein höchst unzuverlässiger, ja gefährlicher Partner, der eher mit sich selbst beschäftigt scheint, als mit dem Wohl seiner Gastgeber. Ein wohlüberlegtes bedachtes und ausgewogenes Handeln ist diesem Wirtschaftssystem offensichtlich fremd, ist dessen Charakter doch von ganz anderer Natur: Völlig ignorant jeglichen Gegebenheiten auf Erden gegenüber ist ihm nur eines bedeutsam – das Geld. Die Verdinglichung der Natur geht allein auf dessen Konto!
Eine jener typischen kapitalistischen Hochphasen erlebte die Welt zum Beispiel in den 1990er Jahren, als alle Augen wieder einmal auf eine völlig neue Technik gerichtet waren, die einen Riesenabsatzmarkt mit ungeahnten Gewinnmöglichkeiten zu versprechen schien – voilà, die digitale Technologie. Dabei sollte man nicht vergessen, dass es für den Kapitalismus immer auch darum ging, sich neue technologische Entwicklungen beizeiten einzuverleiben, wenn diese seinen Interessen und Machtansprüchen dienten.
Zudem wäre die kapitalistische Ökonomie selbst ohne die Erfindung neuer, nachgerade revolutionärer Technologien im Grunde gar nicht möglich gewesen: War es doch der Bau der Dampfmaschine im Jahre 1764, der gleichermaßen den Grundstein für deren weltweiten wirtschaftlichen Triumph legte. Und in der Folge kam es dann relativ rasch auch zur Einführung der Spinnmaschine 1769, dann die des mechanischen Webstuhls 1786, und schließlich die der Lokomotive zu Beginn des 1900. Jahrhunderts, die allem die Krone aufsetzte. Die Welt geriet ins Eisenbahnfieber! Im Eiltempo wurde überall das Schienennetz ausgebaut. Betrug die Gesamtlänge desselben beispielsweise in Preußen um 1850 noch 3.869 Kilometer, waren es 1870 bereits 11.523 Kilometer. Die Zahl der Lokomotiven stieg dort im selben Zeitraum von 498 auf 3.485. In diesem Sinne war es wohl auch kein Zufall, dass die erste Weltwirtschaftskrise 1857 durch wilde Spekulationen am Eisenbahnaktienmarkt ausgelöst wurde.
Und Anfang der 1990er Jahre war der Hype in der kapitalistischen Wirtschaft offenbar ebenso am Limit, denn wiederum schien eine neue revolutionäre Technologie deren Gewinnfeuchtträume ins Unermessliche anwachsen zu lassen – die Einführung von Internet und Mobiltelefon auf dem Markt machte den Kapitalismus schlichtweg kirre. In blinder Zuversicht und anschwellender Hysterie ließ er alle Masken fallen und propagierte nun die New Economy.
So war es auch kein Wunder, wenn die IT-Aktienkurse von einem auf den anderen Tag in die Höhe schnellten, und die entsprechenden Start-ups wie Pilze aus dem Boden schossen – schließlich wollte ein jeder die Nase vorn haben. Bald aber war der IT-Markt derart überhitzt, dass Fachkräfte aus Indien angeworben werden mussten. Und im Grunde war es jetzt völlig egal, wie schwammig Geschäftsideen oder wie vage Businesspläne waren. Man war dazu bereit, jeden x-beliebigen Dotcom-Titel zu kaufen, solange der Name der Firma nur ein „com“ im Namen führte.
In dieser krankhaften Euphorie ging beispielsweise theGlobe.com, eines der ersten sozialen Netzwerke, im November 1998 an die Börse und schloss am ersten Handelstag bezeichnenderweise mit sagenhaften 606 Prozent über dem Ausgangspreis, dem bis dahin besten Initial Public Offering der Börsengeschichte. Darüber hinaus erreichte die Firma binnen kurzem eine Marktkapitalisierung von sage und schreibe Hunderten Millionen Dollar, und das allein aufgrund bloßer Hoffnung auf künftige Werbeeinnahmen, von denen jedoch noch kein einziger Dollar geflossen sein konnte.
Aber mit dieser Tendenz, Unternehmen allein aufgrund ihrer künftigen, mehr oder weniger heiß herbeiersehnten möglichen Situation zu bewerten, ohne deren realen Status und wahre Produktivität zu hinterfragen und zu analysieren, koppelte sich die Ökonomie kurzerhand von der Realität des Marktgeschehens ab, und erschloss sich dieserart neue, rein virtuelle Räume, in denen sie nun blindwütig auf so nebulöse Phänomene wie die Zukunft spekulierte, wenn es um wirklich gewiefte und mutige Gewinnmaximierungen gehen sollte.
Und noch heute sind im Börsengeschehen Wetten dieser Art gang und gäbe – zum Beispiel auf dem globalen Nahrungsmittelmarkt: So gehen heute Banken, Hedgefonds, Pension- und Staatsfonds bewusst Risiken ein, wenn sie auf steigende oder fallende Nahrungsmittelpreise setzen, in der Hoffnung, rasch das große Geld zu machen, wenn die Aktien bei späterem Termin tatsächlich gefallen und jetzt weit unter Preis aufkaufbar sind.
Mit der Abkopplung der Börsenbewertungen von jeglichem Firmengewinn ging man jedoch noch einen Schritt weiter und ließ nun das Geld selbst zum Spekulationsobjekt werden, das frei im fiktiven Börsenraum flottierte – völlig unabhängig vom realen Marktgeschehen und abseits jeglicher ökonomischen Produktivität. Geld, das aber auch dann, wenn man es einsackte, immer noch rein virtuell blieb. Im Kapitalismus kann man eben auch mit Hirngespinsten gutes Geld verdienen
Es war so, als wären die Mühlräder der Industrieanlagen, die bislang vom Wasser angetrieben worden waren, auf einmal wie von unsichtbarer Hand angehoben und drehten sich ohne die treibende Kraft des Wassers trotzdem weiter – blindwütig von den Turbulenzen haltloser Spekulationen eines sich verselbstständigt habenden Profitstrebens angetrieben.
Kasino-Kapitalismus bezeichnet Susan Strange diese Art Ökonomie, und meint damit all jene Spekulanten, die auf hypothetische ökonomische Prozesse heillose Wetten abschließen, die – wenn es denn schief geht – für die Realwirtschaft allerdings üble Folgen haben. Dann zum Beispiel, wenn Broker auf Weizen in Afrika wetten und dort dann schwere Hungersnöte auslösen. „Wenn sie heiß waren, waren sie sehr, sehr heiß. Aber wenn sie es nicht waren, waren sie Verlierer,“ schreibt die New York Times anlässlich des Platzens der Dotcom-Blase über jene Broker, die im März 2000 mit ihren hirnlosen Geschäften weltweit eine Marktkapitalisierung von 5 Billionen Dollar auslöschten.
Nach diesem Desaster aber schien die Ökonomie auf einmal klein beizugeben, und wollte sich nun reumütig wieder realen Sachwerten zuwenden. Deshalb wendete man sich zu großen Teilen von der digitalen Technik ab und knüpfte sich nun den Immobilienmarkt vor – die Gelegenheit schien günstig: Denn aufgrund der Dotcom-Krise waren die Zinsen von der FED, der amerikanischen Zentralbank, mittlerweile auf Niedrigniveau herabgesenkt worden, um der Wirtschaft wieder auf die Sprünge zu helfen. Und diese Konstellation wussten die Banker auszunutzen und stiegen groß ins Hypothekengeschäft ein, das sich bald vor lauter Kleinanlegern, die Sehnsucht auf ein eigenes Häuschen hatten, nicht mehr zu retten wusste, da diesen das billige Geld von den Banken praktisch nachgeschmissen worden war.
Deshalb mussten diese windelweichen Machenschaften bald schon zur nächsten Blase, diesmal zu einer Immobilienblase führen, die ja aus lauter faulen Krediten bestand, und wenige Jahre später, als die Zinsen wieder gestiegen waren, wiederum zwangsläufig platzte wie schon etliche Blasen zuvor, ein Ereignis, das unweigerlich die nächste Krise, die Weltfinanzkrise 2008 nämlich, zur Folge hatte, die dann – als nächste Kettenreaktion – ein Jahr später die Eurokrise nach sich zog, die von Griechenland ihren Ausgang nahm, weil das Land (wie übrigens etliche andere in dieser Zeit auch) am Rand des Staatsbankrotts entlangschlitterte, und fällige Staatsschulden nicht mehr begleichen konnte.
Und noch heute handelt die kapitalistische Ökonomie trotz mancher politischen Einschränkungsversuche im Wesentlichen nur nach ihren eigenen Gesetzen, die sich jedoch nicht selten den herrschenden entziehen, und – scheinbar ganz banal – Gewinnmaximierung und Risiko lauten. Aktionen und Transaktionen, deren latenter oder offensichtlich krimineller Charakter immer wieder ans Licht der Öffentlichkeit dringt, wenn man nur an den Dieselskandal, an Cum-Ex oder Wirecard in Deutschland denkt. Diesbezüglich wirkt das kapitalistische System zuweilen eher wie eine völlig isolierter Körper, der im Sozialgefüge der Gesellschaft schwimmt, und, wie sich gegenwärtig am Beispiel von Phänomenen wie Google, Amazon oder Facebook demonstrieren lässt, nicht das geringste Interesse an den jeweiligen politischen und rechtlichen Verhältnissen in einem Land zeigt, wenn es um Macht und transnationale profitträchtige Deals geht.
Und ebenso wenig scheint die kapitalistische Ökonomie übrigens auch vom Menschen zu halten, denn dieser wird erst als Konsument für sie wichtig. Dann also, wenn er als willfähriges Opfer deren Marktverheißungen unterliegt und ihr blindlings auf den Leim geht, wenn sie behauptet, alles sei käuflich und jederzeit verfügbar und zum uneingeschränkten Verbrauch bestimmt.
Nun aber ist nichts mehr wie zuvor und die Dinge scheinen sich zu verkehren: Denn jetzt ist es auf einmal die Politik, die die Ökonomie an die Kandare nimmt und in die Knie gehen lässt. Ausgelöst von einem einzelnen, wahnsinnig erscheinenden Politiker, der mit dem Überfall auf die Ukraine nicht nur die Wirtschaft in eine weltweite Krise stürzt. Und waren es einst nicht umgekehrt ebenfalls immer wieder Einzeltäter, die sich allerdings nicht Putin, sondern Ludlow oder Fuld nannten.
Da aber ist noch ein anderer, wirklich übermächtiger Antipode der mittlerweile deutlich und unmissverständlich die Szene des Weltgeschehens betreten hat, und jetzt vor allem auch dem globalen Kapitalismus die Stirn bietet – die Natur. Denn auch sie ist durch dessen blindwütiges Wüten zu Schaden gekommen. Zunächst praktisch unbemerkt. Doch nun treten deren Wunden mit einem Mal offen zutage, und er Mensch reagiert geschockt – mein Gott, die Natur. Die hatte er ja völlig aus den Augen verloren.
Dabei ist es nicht die Natur, die aus der Bahn geraten ist, sondern der Mensch: Die sich häufenden Überschwemmungen und Extremwetterlagen, die zunehmende Wasserknappheit und Verwüstung der Erde, gehen allein auf dessen Konto. Und auf das seiner 250-jährigen Wirtschaftsweise, die wohlbemerkt weder auf ihn, den Menschen, noch auf die Natur Rücksicht nahm. Doch während der Turbokapitalismus im Dauerfeuer seiner multimedialen Kanäle dem Menschen heutzutage vor allem psychische und mentale Defekte zufügt, scheinen Erde und Natur mitten ins Herz getroffen und nur noch der Schatten ihrer selbst. Das zeigt sich schon allein am äußeren Bild der Erde, ist dieses doch überall mit Plastikmüll übersät, während der Himmel über ihr am Weltraumschrott erstickt. Die Böden vertrocknen, die Meere übersäuern: Mittlerweile wirkt der Erdball wie eine von der Massenökonomie gnadenlos ausgequetschte Zitrone. Und zwangsläufig schwindet auch der mühsam errungene Wohlstand dahin, machen doch die Extremwetterlagen und die Vergiftung der Umwelt die irdischen Lebensbedingungen für den Menschen weltweit immer schwieriger und riskanter.
Wieder einmal scheint der Kapitalismus an seinem Ende angekommen. Diesmal jedoch mit der schier unvorstellbaren Konsequenz, dass mit dessen Ende möglicherweise auch das der Menschheit eingeläutet worden wäre. Und richtig: Wenn der Mensch nicht umdenkt, ist er vermutlich verloren. Ob er nun will oder nicht, er ist und bleibt Teil der Natur und dessen massenhaftes Handeln demgemäß nicht folgenlos für Boden, Wasser und Luft auf Erden: 7,753 Milliarden Menschen zählte 2020 die Erde.
Offenbar ist dem Kapitalismus außer einer hemmungslosen Geldgier, grenzenlosen Rücksichtslosigkeit und ausgeprägten Natur- und Menschenverachtung noch ein weiteres Wesensmerkmal eigen das bislang nicht wahrgenommen oder zumindest klammheimlich übersehen wurde. Es ist dessen seltsame, ja erschreckend anmutende selbstdestruktive Ader, die ihn da unterschwellig durchpulst. Denn das, was er zuwege bringt und zu erwirtschaften hilft, zerstört er im nächsten Augenblick auch schon wieder.
Das Allerschlimmste aber ist, dass aller Wohlstand, den der Kapitalismus phasenweise mit sich brachte, schon immer auf Sand gebaut war. Beruhte dieser in Wahrheit doch stets auf der achtlosen und völlig ignoranten Ausbeutung und Zerstörung der Natur – ein nachgerade selbstmörderischer Prozess, wie sich heute mehr als deutlich zeigt. Allein um den Preis hochriskanter und manchmal auch krimineller Gewinnspekulationen überhitzte dieser nicht nur phasenhaft seine eigene Ökonomie, sondern auch dauerhaft den gesamten Erdplaneten, dessen zukünftige Bewohnbarkeit für den Menschen somit auf einmal überaus fraglich geworden ist. Doch das schien den Kapitalismus nicht sonderlich zu interessieren, war er doch stets der festen Überzeugung, nicht nur den Menschen, sondern auch die Natur fest im Griff zu haben.
In irgendeiner Form scheint der prototypische Agent dieser skandalösen Ökonomie einem größenwahnsinnigen Kamikazepiloten zu gleichen. Entweder er kommt groß raus und gewinnt, oder er stürzt ab, erleidet Schiffbruch und braucht sich nicht mehr sehen zu lassen.
Richard Fuld, der letzte Vorsitzende und Chief Executive Officer der New Yorker Investmentbank Lehmann Brothers, der deren Insolvenz und die Weltfinanzkrise im Jahre 2008 auf dem Gewissen hat, muss solch ein Mensch gewesen sein. So soll Fuld, der seinem Spitznamen „Gorilla“ durch ein ausgestopftes Gorilla-Exemplar in seinem Büro alle Ehre mache wollte, ein wirklich hartgesottener Kerl gewesen sein. Seinen Gegnern würde er ohne zu zögern „das Herz bei lebendigem Leib ausreißen und es verspeisen, bevor sie sterben,“ betonte er gelegentlich, wenn es darum ging, einen seiner Widersacher einzuschüchtern und ihm dessen Grenzen klar zu machen.
Während seiner Vierzehnjahre bei Lehman Brothers verdiente Fuld sage und schreibe eine Milliarde US-Dollar. Kein Wunder, hatte Lehmann Brothers unter seiner Führung doch auf jeden US-Dollar Eigenkapital 35 US-Dollar an Krediten vergeben. Damit wurde zwar seine Bank reich, der Kunde aber arm. Wenige Tage nach der Insolvenz waren nur noch 170 Mitarbeiter für Lehman Brothers tätig, 24.988 waren vor die Tür gesetzt worden. Fuld selbst hielt zum selben Zeitpunkt 10,9 Millionen Lehman-Aktien, die einen Wert von einer Milliarde US-Dollar gehabt haben sollen – ein millionenschwerer Fallschirm, der selbst für einen gestrauchelten Banker wohl zu groß war.
Man bedenke: Auch im Fall Richard Fuld war es nur ein einzelner Mann, der mit seinen faulen Geschäften eine Weltwirtschaftskrise heraufbeschwor. So wie zuvor auch schon der erwähnte Edward Ludlow, dem Angestelltem der New Yorker Bank Ohio Life Insurance and Trust Company, dessen hochriskante Eisenbahnspekulationen für die Weltwirtschaftskrise 1857 letztlich verantwortlich gewesen waren. Die Dinge wiederholen sich auf perfide Art und Weise. Zumindest im Kapitalismus.
Doch auch jetzt, da die kapitalistische Ökonomie praktisch am Boden liegt, versucht sie wiederum einen ihrer berüchtigten Haken zu schlagen, indem sie vorgibt, angesichts der eklatanten Weltlage der westlichen Politik kleinlaut nachgeben zu wollen. So rückt sie auf einmal von der Idee einer total globalisierten Ökonomie ab, und plädiert stattdessen für deren smarte Variante, die die Demokratien besänftigen soll.
„Friendshoring“ heißt die neue ökonomische Zauberformel, die nichts anderes besagt, als künftig nur mehr mit verlässlichen, befreundeten Ländern Handel zu treiben, und nicht mehr mit solchen, die die Ökonomie als Waffe einsetzen und andere Nationen damit zu erpressen versuchen. „Die Unternehmen müssen verstehen: Globalisierung ist out, Friendshoring ist in“, tönt es aus Kreisen der EU. Und schon zeigt sich mancher in der Wirtschaft schon wieder bedenklich und ängstigt sich um sein Machtpotenzial: „Abhängigkeiten führen auch dazu, dass man miteinander spricht“, meint Herbert Diess, der Vorstandschef von Volkswagen in diesem Zusammenhang. „Man kann sich ein unabhängiges China und unabhängige USA vorstellen, aber für Europa wäre das schlecht.“ Und für VW erst recht, könnte man hinzufügen. Denn dann wäre der Konzern bald insolvent.
Wirrwarr allenthalben! Nicht den Handelspartner gilt es jetzt zu ändern, sondern das Prinzip des menschlichen Wirtschaftshandelns in toto. Viel Zeit bleibe dazu nicht, warnt die Wissenschaft. Doch die Zeit, eine andere, vernünftigere Wirtschaftsweise zu entwickeln, die den Bedingungen und Gegebenheiten auf diesem Planeten konform gewesen wäre, hätte der Mensch wahrlich gehabt. Stattdessen aber ließ er dem globalen ökonomischen Irrsinn des Kapitalismus Hunderte Jahre lang freien Lauf, was im Übrigen dazu führte, dass dieser mittlerweile die einzige Wirtschaftsform repräsentiert, die dem Menschen auf diesem Globus geblieben ist – ohne jegliche Alternative, nirgendwo. Was tun?
Das Schlimmste an allem aber ist die Tatsache, dass der der Mensch im Vergleich zu vielen Tierarten offenbar keine Sensoren besitzt, die ihn hätten davor warnen können, dass mit der Erde irgendetwas nicht stimmt. Und dass er sich mit seinem Verhalten auf dem Weg hin zu einer globalen Katastrophe befindet, die ihn selbst in den Abgrund mitzureißen droht. Derjenigen nämlich, sich auf dem Erdplaneten selbst das Wasser abgegraben zu haben und abdanken zu müssen.