Gesellschaft / 22
DEUTSCHLAND IN KRIEGSZEITEN
"Wir sind als Menschheit nah an
einem psychischen Zusammenbruch."
Guillermo del Toro
Erst COVID-19 und jetzt auch noch Krieg in Europa. Ein Krieg gegen die freie Welt und somit auch gegen Deutschland, auch wenn sich unser Land bislang noch in Sicherheit wiegen mag. Was aber wird morgen sein? Keiner weiß das im Augenblick! Vielleicht noch nicht einmal Putin. So hat dieser angesichts der militärischen Unterstützung der Ukraine durch die NATO schon vor einem Konflikt mit der Allianz gewarnt und in diesem Zusammenhang mit seinen Atomwaffen gedroht.
Mit großer Bewunderung schaut Deutschland gegenwärtig auf das ukrainische Volk, dessen Einigkeit und Mut viele Menschen hier in immenses Erstaunen versetzt. Aber anlässlich dessen richtet sich der Blick nachgerade reflexhaft auch auf das deutsche Volk, dessen Zustand sich gegenwärtig allerdings alles andere als bewunderungswürdig erweist, driften die Menschen unseres Landes doch mehr und mehr auseinander als dass sie sich aufeinander zubewegen würden. Die allseits grassierende Ichsucht und der sozialignorante Eigennutz haben mittlerweile ein Ausmaß erreicht, das einem Angst und Bange macht. Eine Gesellschaft voll von paramilitanten Einzelkämpfern – eine nachgerade absurde Situation.
Dabei gleicht schon allein das äußere Erscheinungsbild Deutschlands einem Paradoxon: Denn obgleich es in krisenhaften Zeiten in einer Gesellschaft üblicherweise unter der Oberfläche zu brodeln beginnt, rumort es in Deutschland schon geraume Zeit in aller Öffentlichkeit exakt dort, während in seinem Inneren, in dessen tieferen und mehr oder weniger verborgenen Sozialregionen eine nachgerade gespenstische Ruhe zu herrschen scheint. Hört man sich jedoch genauer um, kann man schon seit Jahren ein unterschwelliges Gemurmel und Geraune vernehmen, das viel von der seelischen Trostlosigkeit und der innerlich aufgestauten Unzufriedenheit seiner Bürger erzählt, die – sichtlich enthemmt und verroht – allerdings längst keine mehr sind. Fern davon, für sich – ganz unabhängig von COVID-19 – noch eine wirkliche Lebensperspektive entwickeln zu können. Die gnadenlose Macht einer ungewissen Zukunft gegenüber schien sich schon lange zuvor ihrer angstvollen Herzen bemächtigt zu haben.
Anlässlich dieser gesellschaftlichen Situation von einer „gespaltenen Gesellschaft“ zu reden, an deren Oberfläche sich eine Minderheit aus Unzufriedenen tummeln, die sich völlig willkürlich hinter virulenten gesellschaftlichen Problemen wie Migration oder COVID-19 zusammenrotten, nur um einen Anlass zu finden, auf die Straßen zu drängen, um dort ihrem Unmut „mit dem System“ Luft zu verschaffen, während sich angeblich all die Zufriedenen als sogenannte „schweigende Mehrheit“ hinter ihren Fassaden verstecken, ist folglich haltloses, lediglich beschwichtigendes Gerede.
Nein, wie man es auch immer drehen und wenden will, Deutschlands Gesellschaft ist beileibe nicht gespalten – sie zerfällt. Und das in weit mehr als lediglich zwei Teile. Das belegen die Analysen des Sinus-Instituts für Markt- und Sozialforschung das Elementares über die Mentalität der Deutschen in Erfahrung zu bringen versucht, um deren Sichtweise und Haltung der Gesellschaft gegenüber zu verstehen. „Es ist auch wichtig, in die Kühlschränke, Wohnzimmer und Tiefgaragen der Menschen zu schauen“, erklärt Silke Borgstedt, die Geschäftsführerin des Instituts in diesem Zusammenhang.
In diesem Zusammenhang fördern die Untersuchungsergebnisse des Instituts eine erstaunliche, wenn auch wenig überraschende Tatsache zutage: denn heutzutage ist es ganz offenkundig die eigene Identität, die für die Menschen im Lande zum Gradmesser ihres Gesellschafts- und Realitätsverständnisses geworden ist. Und damit zum wichtigsten Kriterium, sich – ihrer höchstprivaten Selbsteinschätzung gemäß – in der Gesellschaft zu definieren und zu verorten.
Ein politisches Bewusstsein aber, die Überzeugung also, sich über die eigene Person hinaus von bestimmten Wertvorstellungen in Bezug auf soziale, wirtschaftliche und politische Verhältnisse leiten zu lassen, sucht man in dieser Gesellschaft mittlerweile vergebens – es scheint sich in den Köpfen der Leute verflüchtigt zu haben. Kein Wunder, gehören die das gesellschaftliche Kollektiv einst strukturierenden Klassen oder Schichten doch längst der Vergangenheit an.
In diesem gesellschaftspolitischen Vakuum frei flottierend und dementsprechend orientierungslos, haben sich die vergesellschafteten Individuen nun offensichtlich in Sozialmilieus zurückgezogen – in jene Sphären also, in denen sie sich mit Ihresgleichen zusammenrotten und verschanzen, um ihrer höchstindividuellen Weltsicht und ihrem subaggressiven, ignoranten Lifestyle zu frönen.
Dabei erinnern diese Sozialblasen in gewisser Weise an die Filterblasen im Internet: Denn hier wie dort führt das besinnungslose, ja manische Beharren auf den eigenen, selbstsüchtigen Interessen diese gesellschaftlich Amputierten nachgerade zwangsläufig in die soziale Isolation. Abgeschnitten von der Allgemeinheit vegetieren sie in lauter Parallelwelten dahin, die untereinander kaum noch etwas Gemeinsames miteinander verbindet und sie deshalb auch demgemäß immer wieder in Konflikte untereinander geraten lässt. Eine Gesellschaft im mentalen Krieg.
Demzufolge lesen sich die bislang vom Sinus-Institut ermittelten Sozialmilieus wie eine Liste von Planeten, die alle um ein nicht mehr zu fassendes Zentrum kreisen:
NEO-ÖKOLOGISCHES MLIEU
Die junge, progressive Mittelschicht. Sie fordert einen nachhaltigen Wandel und lebt ihn selbst vor – erfolgsorientiert, experimentierfreudig und gelassen.
8 Prozent
NOSTALGISCH-BÜRGELICHES MILIEU
Die harmonieorientierte, untere Mitte fühlt sich vom Wandel überfordert, fürchtet den Abstieg, sehnt sich nach Sicherheit und den alten Zeiten.
11 Prozent.
POSTMATERIELLES MILIEU
Die engagierte Bildungselite. Sie sieht sich als gesellschaftliches Korrektiv, setzt sich für Diversität ein und versucht, klimabewusster zu konsumieren.
12 Prozent
KONSERVATIV-GEHOBENES MILIEU
Die alte, statusorientierte Elite mit klassischen Vorstellungen von Verantwortung und Erfolg. Sie versteht sich innerhalb der Gesellschaft als Fels in der Brandung, wünscht sich Ordnung und Balance.
11 Prozent.
MILIEU DER PERFORMER
Die effizienzorientierte Leistungselite pflegt ein globalökonomisches Denken. Ihre technikaffinen Vertreter glauben an Fortschritt, Eigenverantwortung und sehen sich als Stil- und Konsumpioniere.
10 Prozent.
EXPEDITIVES MILIEU
Die ambitionierte, urbane Avantgarde ist auf der Suche nach unkonventionellen Erfahrungen und Erfolgen. Mit ihrem kosmopolitischen, kreativen Lebensstil versteht sie sich als postmoderne Elite.
10 Prozent.
ADAPTIV-PRAGAMTISCHES MILIEU
Der moderne Mainstream ist leistungs- und anpassungsbereit, will aber auch Spaß, Zugehörigkeit und Sicherheit. Seine Vertreter begreifen sich als flexible Pragmatiker, ihre Unzufriedenheit wächst.
12 Prozent.
TRADITIONELLES MILIEU
Die ordnungsliebende ältere Generation passt sich anspruchslos an neue Notwendigkeiten an. Ihre Angehörigen verstehen sich als rechtschaffene kleine Leute.
10 Prozent.
KONSUM-HEDONISTISCHES MILIEU
Die auf Spaß fokussierte (untere) Mitte ist beruflich angepasst und lebt ihr Bedürfnis nach Unterhaltung in der Freizeit aus. Sie sieht sich als cooler Lifestyle-Mainstream und hat ein starkes Geltungsbedürfnis.
8 Prozent
PREKÄRES MILIEU
Die um Teilhabe bemühte Unterschicht will Anschluss an die breite Mitte halten, fühlt sich jedoch oft ausgegrenzt, was Verbitterung schürt und Aversion. Ihre Vertreter sehen sich als robuste Durchbeißer.
8 Prozent.
Mit dieser vom Sinus-Institut ermittelten Sozialstruktur, die vorwiegend auf dem individuellen Egotrip, dem Eigennutz und der Selbstbeschränktheit der in ihr versammelten Menschen basiert, wird rasch klar, wie zerrissen und gelähmt die deutsche Gesellschaft in ihrem Inneren ist. Zerbröselt in zig Sozialfragmente, deren gesellschaftliche Realität und Bedeutung einzig auf einer nachgerade schon pathologisch ausgeprägten Ichbezüglichkeit fußt. Und damit wird auch nachvollziehbar, warum eine derartig zerfranste Gesellschaft wie Deutschland tendenziell große Schwierigkeiten damit haben muss, schwerwiegende und höchstbrisante Probleme, die das gesamtgesellschaftliche Kollektiv betreffen, vernünftig und konfliktfrei zu lösen. Offensichtlich unfähig, noch für eine gemeinsame Sache einstehen zu können, die ja den Wesenskern jedweder Gesellschaftlichkeit ausmacht.
Aus diesem Grunde ist dem Land auch der soziale Impuls zur Solidarität gründlich abhandengekommen – das kollektive Bewusstsein, das notweniger Weise immer auch ein politisches ist, hat sich im Ungefähren der nebulösen gesellschaftlichen Wirklichkeit verflüchtigt. Dass sich solch eine fragmentierte Gesellschaft als rechter Schwächling erweisen muss, wenn es darum geht, einmal auch einem anderen Staat wirklich tatkräftig beiseite zu stehen außer lediglich beschönigende und pseudoaufmunternde Worte von sich zu geben, auf den Straßen zu demonstrieren oder Spenden zu sammeln, versteht sich nachgerade von selbst. So beispielsweise im Krieg.
Und das rächt sich nun, da in Europa nach sehr langer Zeit tatsächlich wieder Krieg herrscht – die Ukraine liegt quasi vor der Tür. Deshalb wären die Deutschen gut beraten, sich endlich aus ihrer (ohnehin fragilen) Komfortzone zu begeben und sich ihrer pseudoaktivistischen Ohnmachtsgefühle zu entledigen, anstatt ihre Profilbilder auf Instagram oder die Gebäude ihrer Städte in die Nationalfarben der Ukraine zu tauchen – in der heimlichen Hoffnung, an der Zapfsäule oder auf dem Aktienmarkt bloß nicht in die Bredouille zu geraten.
Denn wenn das Land schon glaubt, es wäre unschuldig in die Abhängigkeit von russischem Gas und Öl geraten, macht es sich jetzt dennoch schuldig, wenn es diese verfluchten Importe nicht seinerseits sofort stoppen würde. Geht es jetzt doch für die freie, nicht unmittelbar Krieg führende Welt darum, Putin mit den denkbar wirkungsvollsten ökonomischen Waffen gegenüberzutreten, um dessen menschenverachtendes System möglichst rasch in die Knie zu zwingen. Denn das Problem dieses blindwütigen Gemetzels wird sich nur im Kreml lösen. Oder durch das russische Volk.
Wenn Deutschland sich also wirklich erfolgreich daran beteiligen will, diesem Horror ein Ende zu bereiten, muss es seine schizoide, wirklich abstruse Strategie, der Ukraine zwar einerseits Waffen zu liefern, dem Kreml aber andererseits alltäglich eine Unsumme von Millionen Euro für importiertes Gas und Öl in den Rachen zu werfen, unverzüglich beenden. Während die Ukrainer um ihre Demokratie und ihr Leben kämpfen, müssen wir, die wir die Nächsten sein könnten, alles daransetzen, mit den uns in dieser Situation zur Verfügung stehenden Mitteln zur Wehr zu setzen.
Die unmittelbaren Folgen, aber auch das mögliche Leid, das diese Maßnahme für die deutsche Bevölkerung mit sich bringen werden, muss diese bereit sein, tapfer auf sich zunehmen und mitzutragen. Schließlich geht es letzten Endes auch um deren eigene Existenz, was vielen im Land noch immer nicht klar zu sein scheint: Lieber eine kalte Heizung, als ein heißer Krieg!
„In einer Frage von Krieg und Frieden kann keiner neutral sein!“, sagt die deutsche Außenministerin. Deutschland muss Farbe bekennen und zu seiner faktischen Verantwortung stehen. Und wer weiß, vielleicht wird dieser radikale Schritt dem Land auch helfen, über sich hinauszuwachsen, indem es sich endlich aus seiner imaginären Komfortzone befreit und in seinem Inneren wieder Frieden findet. Dann nämlich, wenn es wieder auf die Füße fällt und gezwungenermaßen seine Larmoyanz, Selbstgefälligkeit und Pseudobefindlichkeit endlich ad acta legt. Oder legen muss!
Schnallen wir den Gürtel enger und stellen uns endlich der Realität, statt klammheimlich schon den nächsten Sommerurlaub ins kriegsfreie Ausland zu buchen.