GESELLSCHAFT / 6
POKÉMON GO
Wer gedacht hatte, die Bürger des Landes hätten sich für immer zuhause hinter ihren PCs verschanzt und partout keine Lust mehr, am öffentlichen Leben teilzunehmen, hat sich gewaltig getäuscht. Denn mit einem Mal drängen sie - zu Abermillionen, wie zu lesen ist - wieder auf die Straßen, so als hätten sie den ewigen Cyberspace gründlich satt und wieder richtig Lust aufs echte Leben draußen.
Doch wer ihnen zufälligerweise über den Weg läuft, bemerkt rasch, dass der Schein trügt und wundert sich: Denn wie irregeleitet stolpern die Bürger durch den öffentlichen Raum, schauen nicht nach rechts oder links und scheinen keine Augen für ihre Umgebung zu haben. Stattdessen starren sie völlig besessen auf ihre Smartphones, die sie sich vors Gesicht halten, als suchten sie in ihnen nach etwas, das sich dem Blick des sie beobachtenden Zeitgenossen entzieht - Pokémon GO, des Rätsels krude Lösung.
Eine Art Massenpsychose hat von den sonst so biederen, jetzt aber außer sich geratenen Bürgern Besitz ergriffen: GPS gesteuerte Opfer einer ausgekochten Unterhaltungsindustrie, der sie sich blindwütig unterwerfen, nur um endlich mal wieder etwas Spaß am sonst für sie so trist und leer gewordenen Leben zu haben. Und zwar in Form einer absurden Geisterjagd, draußen, auf freier Wildbahn gleichermaßen.
Denn Pokémons, niedliche Fabelwesen der virtuellen Welt, sind unsichtbar und verdanken ihre Existenz einzig der Augmented Reality. Einer Technologie also, mithilfe derer die Tierchen auf dem Display der Spielwütigen ins reale Umfeld eingeblendet werden. So als würden sie tatsächlich Straßen, Plätze oder öffentliche Gebäude bevölkern. Bunt aufgemotzte Chimären einer zur imaginären Spielwelt erweiterten Wirklichkeit, die in den sonst so apathischen Bürgern auf einmal längst verschüttet geglaubte Jagdinstinkte erweckt, als streiften sie wie einst in grauer Vorzeit wieder durch die Savanne, um Beute zu machen und Nahrung zu finden. Der zum Idioten mutierte Bürger als Jäger und Sammler von Cybermonstern. Und praktisch blind für seine natürliche Umgebung - ein weiteres Indiz für die allseits zu beobachtende Regression des menschlichen Wesens: Die Evolution im fatalen Rückwärtslauf – die App von Nintendo macht’s möglich!
Doch die mental Kastrierten haben Glück: werden die niedlichen Tierchen doch statt mit dem Speer oder Pfeil und Bogen durch fiktionale Ballwürfe zur Strecke gebracht. Mithilfe mehr oder weniger geschickter Wischbewegungen der Gamer über den Touchscreen, die - im Falle ihres Jagdglücks - mit Bonbons und Sternenstaub belohnt werden. Mit Sternenstaub wohlgemerkt – der blanke Hohn, wenn man bedenkt, dass selbst Gamer der kosmischen Materie ihr Leben zu verdanken haben. Ein Leben, von dem sich die im Cyberspace Gefangenen jedoch mehr und mehr entfernen - unfähig, ihr Leben auch wirklich zu leben.
Kein Wunder also, dass man sich um die außer sich geratenen Bürger sorgen, ja um ihr Leben fürchten muss. Denn auf Pokémon-Hatz durch die Straßen unterwegs, haben sie alles um sich herum vergessen, ferngelenkt von ihren Smartphones wie Roboter.
- Auf Bahngleisen zum Beispiel, deren Streckenabschnitt gesperrt werden muss, um Schlimmeres zu verhüten.
- Auf Autobahnen, wo sie vom Höllenverkehr überrollt zu werden drohen wenn dieser nicht unverzüglich umgeleitet wird.
- Auf Truppenübungsplätzen der Bundeswehr, während dort gerade Schießübungen mit scharfer Munition stattfinden und diese durch Platzpatronen ersetzt werden muss.
- Oder in Zoos, wo sie versehentlich in Tigergehege geraten und die wilden Tiere bereits die Zähne fletschen, bevor sie zubeißen.
- Aber noch nicht einmal beim Geschlechtsverkehr wollen die Gamer von ihrer Jagd ablassen und vergessen dabei zu verhüten – die Folgen haben sie selbst zu verantworten, da hilft ihnen keiner.
- Und wirklich übel kann es für sie ausgehen, wenn sie nächtens von ihrer Smartphone-App mithilfe sogenannter Lockmodule in einsames Gelände gelockt werden und in einen Hinterhalt geraten. Dann ist es möglicherweise um sie geschehen.
- Das Allerschlimmste aber droht Kindern, die beim unschuldigen Spiel in die Hände fremder Mitspieler geraten. In den USA ist es bereits unter Aufsicht lebenden
Sexualstraftätern strengstens untersagt, sich das Spiel herunterzuladen.
Dennoch aber wird behauptet, dass Pokémon Go die mentale und physische Gesundheit von Gamern verbessert, die an Depression oder Sozialphobie leiden. Also heißt es laufen, laufen, laufen ... Das probateste Mittel, um Rückenschmerzen oder Übergewicht loszuwerden und letztlich sogar einem Herzinfarkt vorzubeugen, wie die Krankenkassen schwärmen „Es seien aber noch mehr klinische Studien notwendig, um definitiv sichere Rückschlüsse auf gesundheitliche Effekte (des Spiels) ziehen zu können“, ist zu lesen. Trotz allem aber gibt es unter der Hand schon Tipps für Gehfaule, das Handy einfach auf einen Staubsaugerroboter zu legen oder es an einem Haustier zu befestigen, wenn man sich auf virtuelle Jagd begeben will.
Sozialer Sprengstoff jedoch birgt die Tatsache, dass Gamer aus sozialschwächeren Vierteln tolldreist in bessere Wohngegenden vordringen und die Unschuldigen dort in Bedrängnis bringen. In solchen Fällen wäre eine Zusatz-App der Gesichtserkennung dringend vonnöten. Für den Fall, dass Terroristen sich inkognito unter die Gamer mischen, und das Spiel weltweit verboten werden muss.
Bevor das aber passiert, macht die Industrie noch schnell ihre Pokémon-Geschäftchen: In Japan kooperiert McDonald's bereits mit Nintendo. Denn vor jeder Filiale lockt ein sogenannter Pokéstop. So beweist das Spiel "eindrücklich, wie man heute mit wenig Aufwand große Kundenströme steuern kann", triumphiert das Unternehmen.
Eine wirklich berückende Idee aber findet sich in einem Artikel der FAZ: Darin propagiert Adrian Lobe die Start-up App Bloom for Publishers. Sie zeige, „was Verlage von Pokémon Go lernen können“, schreibt der Journalist. „Sie bietet mobile Nachrichten vor Ort an. Das gibt Zeitungen die Chance, junge Leser zu erreichen. Einen Versuch wäre es wert, den Spielern analog zur Werbung personalisierte Nachrichten auf ihrem Smartphone zu schicken wenn sie vor einem historischen Gebäude oder einem Pokéestop stehen. Oder eine Meldung senden, was gerade um sie herum passiert“, steht da tatsächlich zu lesen. „Bloom hat die Idee in die Tat umgesetzt und einen Geolocation-Plugin für Verlage entwickelt“: Das ermögliche den Zeitungen, „genau festzuhalten, wo sich die Spieler gerade befinden – und dann werden die Geschichten (ganz einfach) zu ihnen gebracht.“ Es sei ein Pokémon Go für den Journalismus. „Die Nutzer können (nun) alles zu den verschiedenen Örtlichkeiten erfahren, was Zeitungen (ihnen) mitzuteilen haben. Denn die Leute sind sehr daran interessiert, was in ihrer Umgebung passiert. Eine große Chance, lokale Storys und Events näher an die Leser zu bringen.“
Also los. Die Jagd auf die Pokémon-Jäger ist eröffnet. Weidmanns Heil!