HUMAN – STILL HUMAN?
ICH FÜHLE MICH AM LIEBSTEN GUT!
II.
Bei einem ihrer Liederabende in einem der Konzertsäle dieser Welt gerät die berühmte Sängerin, die ohne deren Wissen vom Quantencomputer für das Experiment HUMAN – STILL HUMAN? ausgewählt wurde, in eine aberwitzige Situation.
Nachdem sie unter dem Applaus des Publikums gemeinsam mit ihrem Klavierbegleiter auf die Bühne gekommen ist und das Lied der Mignon von Franz Schubert zu singen begonnen hat – Nur wer die Sehnsucht kennt weiß, was ich leide – zerfällt auf einmal der sie umgebende Raum vor ihren ungläubigen Augen in tausend Teile, währenddessen sich auch ihr Begleiter, zu dem sie sich noch hilflos umblickt, mitsamt seinem Flügel allmählich in Luft auflöst.
Völlig verwirrt singt die Künstlerin noch einen Moment lang alleine weiter, dann aber strauchelt sie, verliert das Bewusstsein und stürzt ins Bodenlose.
Als sie wieder zu sich kommt, findet sie sich mit einem Mal am nebelverhangenen Ufer eines breiten Flusses wieder dessen steile Böschung mit hohem Schilfgras dicht bewachsen ist. Verwundert blickt sich die Sängerin um – das, was ihr da gerade zugestoßen ist, scheint sie eigentümlicherweise vergessen zu haben. Nach einem Moment des Zögerns klettert sie beherzt durchs Schilfgras die Böschung hinauf – sie will sehen, wo sie ist.
Plötzlich erfüllt ein äußerst bizarres Brummen die Luft. Und ehe sie sich‘s versieht, ereilt die Sängerin auch schon die Attacke eines widerlichen Insekts, das sie penetrant bedrängt und unerbittlich die Böschung nach oben treibt. Mit hilflosen Verrenkungen und frustranen Schlägen in die Luft versucht sie sich des aggressiven Wesens zu erwehren – allein, es bleibt ihr nur die Flucht.
Urplötzlich aber ist der Spuk vorbei. Atemlos hält die Sängerin inne und blickt sich argwöhnisch um – sie traut dem Frieden nicht. Als sie aber auf einmal lautes Knacken und gepresste Atemgeräusche hinter sich bemerkt und sich umwendet, erschrickt sie zu Tode, sieht sie sich doch mit einem Mal einer monströsen, sie an Körpergröße weit überragenden Hummel gegenüber, die sich ihr vom Ufer unten die Böschung hinauf bedrohlich nähert. Laut schnaubend bahnt sich das Monster seinen Weg durchs mannshohe Schilfgras und hält gnadenlos auf die Sängerin zu. Doch diese scheint unfähig zu reagieren – mit schwirrenden Sinnen verharrt sie ob des ungeheuerlichen Anblicks regungslos auf der Stelle.
Fassungslos starrt die Sängerin auf das absurde Wesen, dem sie ausgeliefert scheint.
Hummel: „Was glotzen Sie mich so an? Haben Sie noch nie eine Hummel gesehen? Jetzt haben sich die Perspektiven eben verschoben. Also haben Sie sich nicht so!“
Die Sängerin schweigt verwirrt.
H: „Sie sehen ganz schön fertig aus, wenn ich das sagen darf. Die Sache hier scheint sie ja schon zu Beginn mächtig zu überfordern. Brauchen sie Hilfe?“
Ratlos blickt die Sängerin zu Boden.
H: „So antworten Sie doch! Hat es Ihnen jetzt etwa auch noch die Sprache verschlagen?“
Die Sängerin stöhnt enerviert auf.
H: „Mein Gott, so kaprizieren Sie sich doch nicht so! Ich will mich nun wirklich nicht über Sie lustig machen. Derartiges überlasse ich lieber anderen. Ihnen und Ihresgleichen zum Beispiel ... Beweise?“
Die Sängerin zuckt ratlos mit den Schultern
Die Hummel schaut nach oben ins Ungefähre: „Musik, bitte …!“
RIMSKI-KORSAKOW
HUMMELFLUG
Die Hummel während der Musik: „Bemerken Sie eigentlich die zynische Art und Weise, mit der Ihre Komponisten da über uns herziehen? Das geht mir ganz schön auf den Keks, müssen Sie wissen … Stopp! Das reicht …!“
Die MUSIK stoppt.
Die Hummel nimmt die Sängerin ins Visier: „Sie kennen dieses Machwerk doch sicher genauso gut wie ich ...?“
Die Sängerin lacht spöttisch auf.
H unwirsch: „Ihre Häme können Sie sich sparen, meine Liebe. Wenn Sie und Ihresgleichen nicht endlich lernen, die Welt auch mal durch eine andere Brille zu betrachten als immer nur durch die Ihre, können sie einpacken. Und zwar endgültig, glauben Sie mir! Aber was rede ich, Sie haben ja so oder so keinen blassen Schimmer davon, was es heißt eine Hummel zu sein. Geschweige denn eine Fledermaus, deren Welt einzig aus Echos besteht …“
Die Sängerin reagiert nicht.
H: „Warum antworten Sie denn nicht? Als Musikerin müssten Ihnen Echos doch eigentlich mehr als geläufig sein, schließlich gibt es in Ihrer Musik ja viele von diesen. Beweise …?
Die Sängerin: „Um Gotteswillen, nein!“
Die Hummel geht auf Distanz. „Haben Sie eigentlich je mal mit einem Wal gesungen?“
Die Sängerin schaut betreten zu Boden.
H: „Jawohl, Sie haben sich nicht verhört, meine Liebe: mit einem Wal, habe ich gesagt! Diese famosen Wesen komponieren die wunderbarsten Songs und landen dabei immer wieder jede Menge Hits, mit denen sie in den Weltmeeren dann leidenschaftlich untereinander konkurrieren – die sind ja total vernetzt. Das machen die schon seit Ewigkeiten so, aber von solch einer Musik können sie nur träumen. Dabei sollte man aber nicht vergessen, dass sich die Menschen neuerdings ja auch vernetzt haben. Allerdings auf eine ziemlich bescheuerte Art und Weise: Sie blasen sich gegenseitig Ihre Hirne mit Nichtigkeiten und Häme voll und nennen diese mediale Kakofonie dann auch noch auftrumpfend „sozial“, obwohl sie dabei elendiglich vereinsamen. Da muss einem das Singen ja förmlich vergehen! … Ach, eines wollte ich Ihnen noch sagen, um sie wieder etwas aufzumuntern – wie gut, dass ich’s nicht vergessen habe: Das Lied „Die dicke Hummel" aus der Fortbildungsreihe „Kinderlieder von Anfang an" gibt es jetzt auch als Bilderbuch. Vielleicht finden Sie darin ja das Passende für sich …?“
Die Hummel lacht schallend auf.
Die Sängerin wendet ab.
H: „Hey, schaut an, der Krone der Schöpfung ist der Humor abhandengekommen? Kein Wunder, wenn Sie mich fragen, Sie haben den Erdplaneten zum Überkochen gebracht – jetzt haben wir den Schlamassel. Sich anzupassen, ist offenbar nicht so ihre Sache. Doch vergessen Sie nicht, Sie leben nicht allein hier auf diesem Erdenrund. Das aber werden sie nach unserer Begegnung jetzt wohl so schnell nicht mehr vergessen, hoffe ich. Und noch eines, bevor ich Sie wieder Ihrem Schicksal überlasse: Im Grunde sind Sie und Ihresgleichen nichts anderes als parasuizidale Irrläufer – Irrläufer der Evolution, hören sie? Sie kriegen hier doch einfach nichts gebacken und richten nur Unheil an. In ein paar tausend Jahren werden sie verschwunden sein. Dann kehrt hier endlich wieder Ruhe und Frieden ein …!“
Die Hummel stockt und denkt nach.
H nach einer Weile: „Aber andererseits könnte man auch Mitleid mit Ihnen bekommen, wenn ich’s so bedenke. Denn mit dem Ihnen gegebenen Wesen sind Sie ja wirklich beschissen dran: Sich den Dingen hinzugeben, sie sinnlich zu begreifen widerspricht ganz offensichtlich Ihrer Natur. Sie können einfach nicht anders, als immer nur aggressiv rumzumachen und dagegenzuhalten. Sie schaffen es einfach nicht, mit dem, was sie umgibt, in Ausgleich und Frieden zu leben. Sie müssen sich ja nur immerzu abgrenzen, um sich ein nichtssagendes Ich zu erkämpfen. Doch dieses sogenannte Ich ist in Wahrheit nichts anderes als das fatale Produkt ihrer Einbildung, die sie letztlich nur in die Irre führt. Wir hingegen leben heiter und gelassen. Denn wir wissen nicht, dass wir sterblich sind. Und wenn wir sterben, sterben wir eben …“
Die Hummel beugt sich tief zur Sängerin hinunter.
„Seien Sie ehrlich, ist das nicht ein viel erstrebenswerteres Dasein als das Ihre? Sie aber kommen nicht zur Ruhe, weil Ihnen die Unausweichlichkeit des Todes immer vor Augen steht, der Ihnen eine Höllenangst macht. Deshalb gleicht Ihr Leben doch letztlich einer einzigen seelischen Tortur! … Hören Sie, ich gebe Ihnen ein Beispiel …“
Die Hummel schaut erneut kommandoartig nach oben.
RICHARD WAGNER
TRISTAN UND ISOLDE
LIEBESTOD
KONZERTANTE VERSION
Eine Weile lauscht die Hummel der Musik. Dann aber scheint sie deren Klänge nicht mehr zu ertragen. Sichtlich aufgebracht wendet sie sich bei laufender Musik der Sängerin zu:
H: „Hören sie, überall nur Tod und Verzweiflung. Dabei aber auch immer wieder dieser frustrane Sehnsuchtstaumel danach, sich im schwülen Nichts aufzulösen – in einem Nichts, in dem man sich der Schmach des Lebens entledigen kann. Mein Gott, was für eine lebensverneinende Musik das doch ist. Nein, Sie und Ihresgleichen haben leider keine Ahnung vom Leben geschweige denn von den unendlichen Sphären des Alls. Besinnungslos suchen Sie unerlässlich nach Sinn, weil sie panische Angst vor dem Sinnlosen haben. Deshalb bleibt Ihnen letzten Endes auch nichts anderes übrig, als den Tod unentwegt zu mystifizieren. Wie in dieser schrecklich depressiven Musik da gerade ... Hören Sie, wie verzweifelt und impertinent dieser Komponist beim Schweiße seines Angesichts alles daranzusetzen versucht, Sie den Tod wenigstens für Augenblicke vergessen zu lassen …?“
Sichtlich befremdet hört die Hummel der Musik noch einen Moment lang zu, dann aber wendet sie sich entnervt ab und fliegt laut brummend davon.
Die Musik will nicht enden.
Hilflos steht die Sängerin da.
Sie beginnt zu weinen.