TAGESTHEMEN
28. September 2022
Vom Tagesgeschehen etwas abgekämpft sitze ich spätabends vor der Glotze und schaue mir die Tagesthemen im Ersten an, die Ingo Zamperoni moderiert.
Der hat mir zunächst wenig Überraschendes mitzuteilen: So sei die Gasumlage, die Energieriesen vor der Insolvenz bewahren und den Steuerzahler deswegen zur Kasse bitten sollte, wohl endgültig vom Tisch, sagt der Moderator, wobei mich das Wörtchen wohl zusammenzucken lässt. Denn das heißt ja, dass es sich möglicherweise wieder einmal wochen-, wenn nicht monatelang hinziehen wird, bis die Regierung mit einer Sache endlich zu Potte gekommen ist. Im Wirtschaftsministerium rauchen die Köpfe, hat der Wirtschaftsminister unlängst gesagt, das habe ich natürlich auch aus den Tagesthemen. Doch über die jetzt geplante Gaspreisbremse, die stattdessen beim Verbraucher ansetze und diesen entlasten solle, herrsche noch Uneinigkeit in der Regierungskoalition, so Zamperoni mit latent ironischem Unterton. Eines aber sei jetzt schon klar: Auch dieses Gesetz sei nicht minder vertrackt, zudem wolle man nicht noch einmal einen derart groben Fehler machen wie bei der Gasumlage. Und jetzt folgen – ich fasse es nicht! – schon wieder die üblichen und enervierenden Sendeminuten, in deren Verlauf Politiker und Experten und betroffene Bürger, die selbstverständlich auch namentlich genannt werden, sich ewig dahinziehende, mit gestanzten Statements vollgepackte Interviews geben, die ich glaube, zum Thema schon zigmal gehört zu haben und einfach nicht mehr hören kann und will ...
Gott sei Dank nicke ich ein, träume aber mit einem Mal von düsteren nächtlichen Korridoren und einem Labyrinth von kleinen engen Büros, in denen sich die Aktenberge bis unter die Decken stapeln und völlig übernächtigte Beamte in den Schluchten des Papiers über Expertisen brüten, die sie nicht verstehen, während Lindner auf Sylt heiratet, und Merz ihn in seinem silberglänzenden Flieger besuchen kommt, während Habeck, der nicht anreisen will, zuhause schmollt, und zu seiner Entspannung ein neues Kinderbuch mit dem Titel DAS GAS UND ICH schreibt, denn zu einer Autobiografie ist es für ihn als Politiker einfach noch zu früh, das wird ihn jede Literaturagentur wissen lassen.
Noch ganz im Tran komme ich wieder zu mir und bemerke, welcher Schrott da in meinem Gehirn kreist. Schrott-Informationen, die ich mir bei den Tagesthemen eingehandelt habe, und offenkundig von meinem Gehirn gespeichert wurden. Das menschliche Hirn ist da gnadenlos. Als ich NORD STREAM sagen höre, bin ich mit einem Mal wieder ganz da, und erschrecke, als ich Zamperonis besorgtes Gesicht erblicke: Heute hätte die dänische Energiebehörde Alarm geschlagen, sagt er betont prononciert. An den Röhren von Nord Stream 1 und 2 sei es nahe der Insel Bornholm zu insgesamt drei Gaslecks gekommen – zwei Lecks an Nord Stream 1 nordöstlich der Ostsee-Insel auf schwedischem Hoheitsgebiet, sowie eines an Nord-Stream 2 südöstlich der Insel auf dänischem. Das ausströmende Gas bestünde praktisch zur Gänze aus METHAN, das durch die Lecks der Pipeline an die Meeresoberfläche hochsprudele, wo es aufgrund der gewaltigen Menge an Blasen einen riesigen blubbernden und schäumenden Wellenteppich verursache, bevor dieses dann in die Atmosphäre gelange.
Zamperoni macht auf einmal eine Kunstpause und linst vielsagend in die Studiokamera, als wolle er sagen: Sie wissen ja, werte Zuschauerinnen und Zuschauer, dass Methan viel schädlicher fürs Klima ist als CO2, warum sollte ich Ihnen das also nochmal sagen? Dann fährt Zamperoni fort und berichtet, dass offenbar EXPLOSIONEN zu diesen Lecks geführt hätten. Jedenfalls hätten schwedische und dänische Messstationen mehrere Unterwasserexplosionen in der entsprechenden Meeresregion registriert, was mehr als ungewöhnlich sei. Und dann ist auch schon der polnische Ministerpräsident im Bild, der mit norwegischen und dänischen Regierungsvertretern gerade die neue Ostsee-Gaspipeline Baltic Pipe eingeweiht hat, die von Norwegen über Dänemark nach Polen führt. Offenbar will er den Schuldigen bereits gefunden haben, und warnt ganz unverhohlen vor der „erweiterten Kriegsführung“ Russlands, wie es sich an Nord Stream 1 und 2 heute gezeigt hätte …
Drei Lecks gleichzeitig, lediglich ein paar hundert Meilen voneinander entfernt – das kommt mir nicht wie ein Zufall vor, fährt es mir durch den Kopf: Die Vermutung, es handele sich um einen Terrorakt, liegt also nah. Und Putin, der ja sprichwörtlich über Leichen geht, wäre das durchaus zuzutrauen, nach allem, was er schon anrichtete. Es könnte aber auch ein ganz anderer für diese Attacke verantwortlich sein. Wer weiß? Schließlich ist der Ukraine-Krieg vor allem auch ein Krieg zwischen den USA und Russland: So denken folglich auch die USA darüber nach, wie sie Russland schwächen und in die Knie zwingen können. Dem CIA ist alles zuzutrauen …
Der polnische Präsident redet immer noch: Aufgrund der eklatanten Situation habe man sich nun dazu entschlossen, alle erdenklichen Sicherheitsmaßnahmen zu ergreifen, um einen ebensolchen Anschlag auf die Baltic Pipe, die ja auch durch die Ostsee führe, mit allen Mitteln zu verhindern ... Mir wird auf einmal mulmig – ich sehe schon norwegische, dänische und polnische U-Boote vor meinen Augen, wie sie die Pipelineröhren der Baltic Pipe des Nachts bedrohlich entlangschweben – mit taghellen Unterwasserscheinwerfern, um den Feind abzuschrecken. Plötzlich kommen mir Hochspannungsleitungen in den Sinn, Umspannwerke und letztlich Atommeiler, die vielleicht Flugzeugabstürze überstehen, aber noch lange nicht Hackerangriffe. Jetzt sind wir also mitten in Europa bei der hybriden Kriegsführung angelangt. Eine, die den Terrorismus um ein Leichtes zu überbieten vermag, haben Staaten doch eine wesentlich größere Power hinter sich, wenn sie psychotisch geplante Angriffe ausüben. Der Frontkrieg war gestern, wie es sich in der Ukraine zeigt, die hybride Attacke scheint da bei Weitem erfolgreicher, wenn man gewinnen und als Staatenlenker nicht scheitern will. Dann zettelt man auch schon mal den Sturm aufs Kapitol an. Jede Medaille hat zwei Seiten. Und PSYCHOSE herrscht auf beiden Seiten. Wer es noch nicht bemerkt haben sollte – die Welt ist in GOTHAM CITY angekommen. Alles, was denkbar ist, scheint erlaubt, wenn es gilt, den Feind zu vernichten. Die Welt ist nicht mehr kalkulierbar – es kommt, wann es kommt und ist nicht vorhersehbar. Und das, während dem Menschen der Erdball unterm Arsch wegbrennt. Vielleicht hatte Freud ja doch recht, wenn er dem Menschen einen TODESTRIEB unterstellte. PARASUIZIDAL ist er in jedem Fall …
Ich traue meinen Augen nicht. Eine Weile lang sitzt ich mit offenem Mund da: Denn urplötzlich hat Ingo Zamperoni seinen Anzug gegen einen ASTRONAUTENANZUG gewechselt. Den Helm hält er vorsichtshalber in der Hand, damit er sich nur ja keinen Shitstorm einhandelt, wenn Zuschauer behaupten würden, sie hätten ihn unter dem Helm plötzlich nicht mehr verstanden – und dies bei einer so geilen Szene. Ingo Zamperoni im Tagesthemenstudio als Astronaut, da will doch jeder sofort wissen, welche atemberaubende Nachricht da unterm Astronautenanzug steckt? Aber auch ohne Helm klingt Zamperonis Stimme mit einem Mal nicht wie von dieser Welt: Seine Worte hallen unwirklich nach, von einem kaum hörbaren kosmischen Rauschen unterlegt – man hat den Eindruck, als befände sich der Moderator auf einem anderen Stern. Und richtig, neben ihm schwebt ein etwa anderthalb Meter großer Asteroid, der gespenstisch langsam auf seiner Bahn durchs Weltall dahinzieht ...
Plötzlich bemerke ich einen Satelliten, der mit affenartiger Geschwindigkeit durchs Weltall auf den riesigen Steinbrocken zurast: In wenigen Momenten wird der Satellit auf seiner DART-MISSION der NASA auf dem Asteroiden einschlagen und so versuchen, diesen von seiner Bahn abzubringen, tönt Zamperoni, als ginge es um den Kampf zwischen David und Goliath. Denn im Vergleich zum Asteroiden-Koloss ist der Satellit ein wahrer Winzling. Und hier nun die letzten Bilder vom Satelliten, kurz bevor er auf das Monster aufschlägt. Zamperoni blickt in die Kamera, als wollte er mich hypnotisieren. Mit einem Mal glaube ich mich in einem VIDEOGAME wiederzufinden. Und wenn es der Satellit doch nicht schafft, was dann, fährt es mir durch den Kopf? Wer kriegt denn dann die MINUSPUNKTE oder fliegt gleich aus dem Spiel?
Völlig entnervt sinke ich in meinen Sessel zurück und komme mir ziemlich verarscht vor. Und wer die Minuspunkte einkassiert, ist jetzt klar: Einzig der öffentlich-rechtliche EGOSHOOTER in seinem Astronautenlook und seine Kollaborateure der Tagesthemen, die Nachrichten mal eben so in Kostüm und Maske stecken, weil sie den Zuschauer offenbar mit allen Mitteln bei der Stange halten wollen. Unterstellen sie ihm mit diesem pseudovirtuellen Firlefanz doch, dass er sensationsgeil ist und immer irgendeine digitale Deko braucht, wenn er sich Nachrichten reinziehen will. Auch die Tagesthemen müssen mit der Zeit gehen. So werden sie zum Schnäppchenpreis sicher bald von RTL aufgekauft werden können, weil sie ohne Gebühren nichts mehr wert sind. Das aber sind sie schon jetzt!
Trotz allem aber hätte Ingo Zamperoni vor ein paar Monaten den ultimativen Coup landen können. Er hätte sich mit seinem High-Tech-Studio live in das von den Russen belagerte Asow-Stahlwerk in Mariupol beamen lassen, und uns mit den ukrainischen Soldaten bekannt machen sollen, die sich in diesem verschanzt hielten und nicht aufgeben wollten, weil ihr ukrainischer Stolz das nicht zuließ. Allerdings hätte der Moderator zu diesem Anlasse nicht nur eine Schutzweste, sondern auch ein richtiges Soldatenkostüm tragen müssen - allein um die Dramatik der Lage zu unterstreichen.
Doch halt – wenig später waren die ukrainischen Soldaten nach der Einnahme des Asow-Stahlwerks von Russland ja in Gefangenschaft genommen worden, das hätte ich beinahe vergessen. Folglich hätte Zamperoni seine Tagesthemen erst mal vergessen können. Man stelle sich den SHITSTORM vor: Zamperoni in russischer Kriegsgefangenschaft. Die Tagesthemen schicken ihren Chefmoderator an die Front und verheizen ihn. Die Öffentlich-Rechtlichen wären wieder einmal in die Schlagzeilen geraten.
Doch vergessen wir nicht: Ende August kamen immerhin 215 der 2.500 Asow-Kämper im Rahmen eines Gefangenenaustauschs von Russland wieder frei. Und Ingo Zamperoni wäre sicher einer von diesen gewesen, davon kann man ausgehen. Schließlich gab es unter den Freigelassenen auch ukrainische Kommandeure.
Aber wie auch immer: Zamperoni sollte ab jetzt besser in seinem Studio bleiben und seine Maskeraden tunlichst unterlassen, damit seine Tagesthemenkollaborateure nicht noch einmal auf falsche Gedanken kommen. Alles andere wäre lebensgefährlich. Das aber lässt sich nicht mehr überprüfen, ich mache jetzt nämlich einen längeren Tagesthemen-Entzug.