IRRSINN
Den verrücktesten Sonnenuntergang gibt es auf Santorini in Oia. Wenn man die Sonne, die allmählich im Meer versinkt, auf einem Stuhl sitzend, betrachtet, hat man nicht das Gefühl, die Sonne würde untergehen, sondern, mit einem auf ihm sitzend, würde der Stuhl sich – deutlich spürbar – rücklings nach hinten unten wegdrehen. Man bemerkt also fassungslos, was man nicht sieht: Dass die Sonne am Himmel fixiert ist. Und wir es sind, die sich wegdrehen und untergehen.
Der Sonnenuntergang in Oia ist aber auch aus einem ganz anderen Grund wirklich verrückt: Ist er doch die Megashow schlechthin, die sich dort allabendlich vor abertausenden Augenpaaren und Gummilinsenobjektiven abspielt. Jeder verdammte Tourist muss ihn gesehen haben, sonst glaubt ihm nachher keiner, wirklich auf Santorini gewesen zu sein.
Da ist es nur konsequent, dass jeder Werbeclip, jede noch so abgefuckte Touristenbroschüre den Sunset Oia wie einen Blockbuster bewirbt. Mit irren Hochglanzfotos im überdrehten Posterstil und frisch gebürsteten Eseln vor Windmühlenarrangements wie auf der Postkarte. Mit Superappartements in einer Superbucht mit Superblick auf das Superspektakel (Diesen Augenblick werden sie im Leben nie vergessen!). Mit pseudoexakten An- und Abfahrtszeiten von Schiffen, die aussehen wie die bei den Schlachten gegen die Perser, und von Bussen, die mit schwarz verspiegelten Fenstern auch durch Los Angeles fahren. Und natürlich mit überall ausliegenden Dorfplänen, auf denen man Pizza- und Dönerbuden als knallrote Punkte erkennen kann, sodass jeder Depp sie findet.
Für Australier oder Neuseeländer ist das Spektakel ein unbedingtes Muss. Für Amerikaner, Franzosen und Italiener ebenso. Für die Chinesen, die absoluten Reiseweltmeister hingegen, ist das Ganze lediglich der bloße Anlass, binnen einer halben Stunde wie besessen Hunderte von Hochzeitsfotos zu schießen. Denn dann ist die Sonne im Meer versunken und die Show vorbei.
Im Rücken den gelbroten Feuerball, posieren sie in schrillen Babydollroben und Smokingplastikverirrungen und versuchen – bis zur Erschöpfung sich bizarr verrenkend – ein paar coole Shots zu landen, um mit denen dann zuhause, gerahmt über der Couch oder auf Smartphone für Arbeitskollegen, mächtig Eindruck zu schinden. Sind solche Fotos in China doch das Statussymbol par excellence, das mittlerweile sogar Kultcharakter besitzt. Warum weiß keiner so genau. Ein Netzphänomen vermutet man. Aber wie immer auch, ein Chinese, der hochzeitsfotolos von Santorini zurück nachhause kommt, muss sich darauf gefasst machen, vom Shitstorm seiner Landsleute umgeblasen zu werden, so viel ist sicher.
Im gigantischen Halbrund der Bucht sitzen Menschen aller Herren Länder auf den Runddächern labyrinthartig angeordneter, knallweiß getünchter Häuser, die wabenartig am Fels kleben und bestaunen hingerissen das Naturschauspiel, als säßen sie im Theater und wohnten einer Inszenierung bei. Und natürlich sind sie das Publikum, das der Szene vom atemberaubenden Untergang der gleißenden Göttin schier atemlos folgt. Wenn die Aktrice ihrem Auftritt alle Ehre macht und hoheitsvoll im Meer versinkt, brandet Applaus auf und Gejohle wird laut. Wenn aber nicht und sich – meist völlig unabsehbar und in Windeseile – eine Wolkenfront zwischen Diva und Publikum schiebt und die Schöne verhüllt, herrscht Unmut und frostiges Schweigen. Wie Betrogene verziehen sich die Leute und fordern vom Reiseführer ihr Geld zurück. Der aber zuckt nur mit den Schultern und tut so, als sei der Projektor ausgefallen.
Als der Reiseführer mir die Geschichte vom Projektor erzählt, erinnere ich mich an eine verrückte Idee, die mir angesichts der beginnenden Touristenschwemme vor Jahrzehnten schon in den Sinn gekommen war: Zu deren Realisierung bedürfte es lediglich zweier Helikopter und einer riesigen Leinwand, die aberwitzige 500 auf 350 Meter, zwischen beiden der in der Luft stehenden Helikopter gespannt wäre und direkt vorm Sonnenuntergang in der Luft hinge. Dann wäre jeden Abend Rambazamba und full house und Applaus und Gejohle. Denn auf der Megaleinwand wäre ein perfekter Sonnenuntergang projiziert, absolut wetterunabhängig zur Untergangszeit und natürlich noch viel schöner als der in Wirklichkeit.
Nun lese ich gerade vom Smog in Peking. Natürlich im Netz, wo sonst. „Knapp 100 Meter weit reicht die Sicht“, heißt es da. „Der dichte Dunst lässt zudem kaum die Sonne durch und es sieht aus, als stünde der Weltuntergang bevor.“ Und als ich die Bilder sehe, stockt mir der Atem: Fassungslos sehe ich meine absurde Vision von damals Wirklichkeit geworden. Allerdings nicht in Oia, sondern in Peking. Dort nämlich steht auf einem großen Platz eine riesige LED-Leinwand, auf der ein Sonnenuntergang zu sehen ist – mitten im Smog. „Ob dies ‚programmierte’ Sonnenaufgänge sind, sodass man jeden Tag einen anderen sieht, oder ob der lediglich einmal aufgenommen, jeden Tag derselbe ist“, orakeln die Medien, halten sich jedoch bedeckt. Sie könnten ja auch schreiben, dass die Leute in Peking schlichtweg vergackeiert werden.
Seit diesem Jahr gibt es wöchentlich zwei Charterflüge direkt von Shanghai nach Santorini und wieder zurück. Also sollte ich mich jetzt schleunigst an die Realisierung meiner Vision machen – in Oia natürlich. Zwei Helikopter und eine Leinwand werden sich noch irgendwie sponsern lassen. Was aber, wenn der Wind nicht mitspielt, verflucht? Eine LED-Leinwand solchen Ausmaßes im Meer zu verankern wie eine Bohrinsel – der Spaß ginge wirklich zu weit! Und außerdem, was sollen überhaupt noch Sonnenprojektionen am Himmel? Die zeigt man heutzutage auf Smartphone, wo denn sonst? Eine App macht’s möglich und man wird reich. Im Handumdrehen, Wetter hin oder her.
Wenn es aber gar nichts mehr zu sehen gibt, hören wir uns den Sonnenuntergang wenigstens an. Den gibt es von Richard Strauss. „Der Abend“ heißt das Stück, op. 34 Nr. 1 für Chor a capella.